Zu schauen gibt es viel bei „Carmen“ auf dem See, aber mit dem Verstehen hat man seine Mühe. Foto: dpa

Mit Bizets Opernhit „Carmen“ sind die Bregenzer Festspiele eröffnet worden. Die bieten unter Elisabeth Sobotkas Leitung einiges Neue und auch Querständiges. Aber sie bleiben trotzdem populär.

Bregenz - Mehr Event war hier noch nie. Nach einem strahlenden Sommertag färbt sich der Himmel über dem Bodensee rabenschwarz, ein Wind kommt auf, Regen prasselt auf die Zeltdächer der Gastronomie rund um das Bregenzer Festspielhaus. „Wir sind zuversichtlich . . .“, verkündet aus Lautsprechern eine freundliche Stimme. Die Verkäufer von Regencapes kommen mit dem Nachschub kaum hinterher. Knapp 7000 Zuschauer stülpen sich Plastik über die Abendgarderobe.

Das könnte man, gerade mit Blick auf die ihrem Wesen nach elitäre Gattung Oper, als ungewollten anarchischen Akt, ja gar als subversiv sozialistisch belächeln – tatsächlich aber geht es bei den Open-Air-Großveranstaltungen auf der Bregenzer Seebühne nie elitär, sondern immer ausgesprochen populär zu. Und „Carmen“ hat in diesem Jahr eine zuvor noch unerreichte Marke auf der nach oben hin völlig offenen Skala des Bühnenwirksamen erreicht. Das Stück ist eine Augenweide, es macht die See- zur Sehbühne.

Monumentale Hände

Schon von Weitem – die Bühne hat die poperfahrene Stagedesignerin Es Devlin entworfen – sieht man Carmens Hände und Unterarme. Monumental ragen sie aus dem Wasser des Sees, von den Fingernägeln blättert roter Lack, der eine Arm ist tätowiert, eine Hand hält eine Zigarette, die, solange es hell ist, raucht und dann bei Dunkelheit rötlich glimmt. Zwischen den Händen: 15 je knapp 30 Quadratmeter große Karten, die zu fliegen scheinen. Sie werden von einem Stahlgerüst getragen, wirken von der Zuschauertribüne aus aber fast schwerelos. 28 Karten liegen horizontal darunter: Auf verschiedenen Ebenen bilden sie die Spielfläche, auf der sich das Drama um Liebe und Tod ereignet.

Das wirkt, auch im Regen, der stärker wird. Die Natur dekoriert am Mittwochabend die Kunst mit Blitzen und Donner. Aber was der Dirigent Paolo Carignani mit den Wiener Symphonikern aus dem unsichtbaren Off an Energie und an Feinheiten hervorzaubert, ist ebenfalls gut – so gut, dass man es auch gerne live gesehen und nicht nur aus den Lautsprechern gehört hätte. Dabei ist die akustische Übertragung in Bregenz von höchster Qualität, die Klänge haben nichts Blechernes, die Stimmen wirken ziemlich natürlich, und das berühmte Bregenzer Richtungshören ermöglicht auch bei „Carmen“ wieder, dass man als Zuhörer den Entstehungsort jedes Signals präzise orten kann.

Viel Glut, wenig Erotik

Bei manchen Sängern dieses Abends wäre das allerdings nicht nötig gewesen. Daniel Johansson ist mit dem Don José überfordert, er drückt und stemmt. Und Scott Hendricks wabert sich ohne Tiefe und mit oft nur durch Falsettieren erreichter Höhe durch die Partie des Escamillo – ihn hätte kein mittleres Stadttheater zu besetzen gewagt. Elena Tsallagova gibt eine solide, stimmlich nicht mehr ganz junge Micaela. Gaelle Arquez schließlich singt die Carmen mit Glut, Präzision, reicher Farbe, aber fast ganz ohne Erotik.

Das mag der weiten Entfernung zwischen Bühne und Publikum geschuldet sein, äußert sich aber auch musikalisch: Nachdem Paolo Carignani mit dem Orchester gleichsam in das Vorspiel zu ihrer Habanera („L’amour est un oiseau rebelle“) hineingestürmt ist, zieht die Sängerin die Handbremse an, und dann schleppt sich die Arie irgendwie schlaff dahin.

Spielkarten im Wasser

Carmen hat aber immerhin ein rotes Kleid an, und überhaupt lebt dieser Abend vor allem von Farben. Gelb, Schwarz, Rosa, Blau, das füllt die Bühne, das lagert hier, das zofft sich dort, und das tanzt zwischendurch auch mal auf abgesenkten Spielkarten im Wasser. Kasper Holten hat inszeniert, aber erklären will er nichts – nur zeigen. Das geht in eins mit der fast vollständigen Streichung der gesprochenen Dialoge, die zur Folge hat, dass man vieles in und mit diesen Figuren nicht mehr recht verstehen kann. „Carmen“ auf der Seebühne wirkt in der fast nackten Addition schöner Arien und Ensembles wie einer der früher so populären Opern-Querschnitte auf Schallplatten.

Fremdkörper und Womanizer

Dass auch auf der Seebühne neben aller Plakativität ein Vordringen unter die Oberfläche von Opern möglich ist, hat zuletzt David Pountney in seiner Inszenierung von Mozarts „Zauberflöte“ bewiesen. Hier findet es nicht statt. Man begreift nicht, warum José, der Carmen in der Kerkerszene an einem roten Seil führt, ihr plötzlich verfällt, die Figur der Micaela wirkt wie ein Fremdkörper.

Immerhin gönnt Holten dem Womanizer Escamillo einen Auftritt, der auf dem Lager einer anderen Frau beginnt. Und er schickt Carmen auf wirkungsvolle Weise in den Tod: Alleine mit Don José steht sie am Ende knietief im Bodensee, dann packt sie der Eifersüchtige, drückt sie unter Wasser, und so treibt Gaelle Arquez im roten Kleid als Bühnentote auf den Wellen, bis das Orchester endlich, endlich zu Ende gespielt hat.

Der Sprung in den See

Hinterher, nachdem sich die tropfnasse Sängerin lächelnd verbeugt hat, rätselt das Publikum lange, wo sie nach ihrem Ableben bloß den Sauerstoff herbekam. Und ob sie auch die rot gekleidete Frau gewesen ist, die schon bei Carmens Flucht aus dem Kerker in den See sprang – oder ob das nicht doch ein Statistendouble war.

Mehr zu fragen bleibt nicht. Vor allem die Augen der Zuschauer sind nach dieser „Carmen“ glücklich, müde, satt. Sie haben Karten gesehen, auf die ständig neue Motive und Farben projiziert wurden. Sie haben tolle Tänze mit wirbelnden Röcken gesehen. Sie haben zum Stierkampf ein Feuerwerk hinter der Bühne erlebt. Sie haben schöne Kunstmusik mit Naturdonner gehört und viele Regentropfen, die auf Plastik fallen. Und sie sind im letzten Akt trocken geblieben. Das Festspielprogramm bietet unter der Intendantin Elisabeth Sobotka viele kleine Preziosen, Neues, Ungewöhnliches, auch Querständiges. Aber auf der Seebühne war noch nie so viel Musical wie an diesem Abend.