Die Libero-Teilnehmer erledigen Renovierungsarbeiten und betreiben zwei Bienenstöcke. Jüngst konnte der erste Honig geerntet werden. Foto: privat

Beim Caritas-Projekt Libero wird versucht, abgestürzte junge Männer durch Arbeit zu stabilisieren. Das Don-Bosco-Haus in der Reinsburgstraße, in dem die Männer leben, stellt eines der letzten Netze nach dem Abszurz dar.

S-West - Weckerklingeln, aufstehen, duschen, Zähne putzen, Kaffee trinken, zur Arbeit gehen. Mit der morgendlichen Routine von Millionen Arbeitnehmern tut sich einer, der auf der Straße gelebt hat, schwer. Auch Flo, Malte und Sascha (Namen geändert) fiel das anfangs nicht leicht. Die drei Männer im Alter zwischen 22 und 25 Jahren leben seit etwa zwei Jahren im Don-Bosco-Haus in der Reinsburgstraße. Das Haus stellt eines der letzten Netze nach dem Absturz dar. Zuvor hatten die Männer monatelang auf der Straße gelebt. Malte erzählt von Parkhäusern in der Stadt, Orten wie dem Innenhof der Staatsgalerie, die ihm als Schlafplatz dienten. „Im Winter hast du immer alle deine Klamotten übereinander gezogen.“

Auf der Straße fließen die Tage dahin

Schlimmer als Kälte und Hunger war die Einsamkeit, sagt der 25-Jährige: „Nach einer Weile auf der Straße will plötzlich keiner mehr was mit dir zu tun haben. Der komplette Freundeskreis und die Familie lassen dich fallen wie eine heiße Kartoffel. Es gibt keinen zum Reden. Die einzigen, die noch mit dir sprechen, sind die, denen es noch dreckiger geht.“

So unterschiedlich die Lebenswege von Flo, Malte und Sascha sind, ein paar Gemeinsamkeiten gibt es: Eltern, die sich nicht kümmern, Alkoholmissbrauch als Teenager und später Konsum harter Drogen spätestens dann, nachdem sie auf der Straße gelandet waren. Sascha schildert, wie seine Tage dahinflossen: Nachmittags aufstehen, sich in die Stadt trollen, Drogen besorgen, mit Anderen abhängen, wieder zu einem Schlafplatz torkeln.

Mit dem Einzug ins Don-Bosco-Haus hatten die jungen Männer erst mal wieder ein Dach über dem Kopf. Mit Menschen zu sprechen, den Fachleuten im Haus seine Probleme zu offenbaren oder gar Hilfe anzunehmen, aber brauchte Zeit: „Man wird brutal misstrauisch, wenn man auf der Straße gelebt hat. Da hast du so viel Scheiße hinter dir“, sagt Malte.

Selbstwertgefühl durch gemeinsame Arbeit

Am meisten aber leidet das Vertrauen in die eigene Person. Einer der jungen Männer bringt es auf die Formel: „Du bist Abschaum.“ Hier setzt Libero an – das Kürzel für „Leben im Bewusstsein einer regelmäßigen Ordnung“. Das Projekt des Fachdienstes Jugend, Arbeit, Perspektive (JAP) der Caritas führt niedrigschwellig an den Arbeitsalltag heran. „Die Betreffenden beziehen zwar Leistungen nach dem SGB II und werden als arbeitsfähig eingestuft. Aber wegen ihrer multiplen Problemlagen können sie den Ansprüchen des ‚Förderns und Fordern’ nicht gerecht werden“, sagt die Fachdienstleiterin Gundula Briem.

Die zehn freiwilligen Projektteilnehmer werden morgens vom Arbeitserzieher Jens Vollmer abgeholt und nach Feuerbach zum JAP gefahren. Dort bespricht man den Tagesablauf und los geht’s: Streichen, renovieren, Umzugsarbeiten. Die Männer erledigen, was in einer großen Einrichtung wie der Caritas gerade so ansteht. Sie kümmern sich selbst um ihr Essen, kaufen ein und kochen gemeinsam. Und sie betreuen zwei Bienenvölker, deren Stöcke auf dem Dach des JAP-Gebäudes stehen. Vergangene Woche schleuderten sie ihren ersten eigenen Honig. „Die jungen Männer erfahren bei Libero, dass sie etwas können“, sagt Briem. Die gemeinsame Arbeit soll ihr Selbstwertgefühl verbessern, das Sozialverhalten, das Verantwortungsgefühl. Zugleich geht es um das körperliche Befinden, um Gesundheitsbewusstsein, Hygiene, aber auch um handwerkliches Geschick. Das Programm ist als Rundumpaket gedacht.

„Du bist besser drauf und kannst besser schlafen“

Arbeitserzieher Vollmer erinnert sich noch an die Anfänge des Projekts vor einem Jahr, wenn er die Jungs morgens in der Reinsburgstraße einsammelte: „Das war ein zusammengewürfelter Haufen, ziemlich misstrauisch. Die meisten hatten noch nie miteinander gesprochen, obwohl sie im selben Haus wohnen.“ Bleich, schlaff und unausgeschlafen hätten sie am Kaffeetisch gehockt, „alle chronisch etwas unterernährt“. Über die Monate seien sie zu einer Gemeinschaft zusammengewachsen. „Gibt es mal Stress, spricht man miteinander und läuft nicht mehr einfach weg. Man achtet aufeinander, und die Jungs wecken sich morgens gegenseitig“, sagt Vollmer. „Auch körperlich stehen sie heute sehr viel besser da.“

Die Jungs stimmen zu, und einige klingen dabei so überschwänglich, dass man den Eindruck gewinnen könnte, es gäbe für sie nichts Schöneres auf der Welt als Arbeit. „Ich brauche das einfach“, sagt Malte. „Ohne Arbeit bin ich inzwischen gereizt und übel gelaunt. Die Struktur hat mir bislang im Leben gefehlt.“ Sascha formuliert es etwas pragmatischer: „Du fühlst dich besser, und die Stunden gehen schneller weg. Du bist besser drauf und kannst besser schlafen.“ Er nehme jetzt deutlich weniger Drogen als früher.

Offenbar hat es bei allen klick gemacht. Ein Teilnehmer, drogenabhängig seit dem elften Lebensjahr, wagt im September den Sprung in die reale Arbeitswelt und will eine Lehre zum Maschinenanlagenführer beginnen. Mancher Zukunftsplan klingt exotisch und ambitioniert, einer indes bescheiden: Stress vermeiden und stabil bleiben, hat sich einer der Teilnehmer vorgenommen. Tatsächlich aber dürfte dies für die meisten Menschen ein ehrgeiziges Dauerprojekt darstellen.