Foto: Sonja Rothweiler/Staatsschauspiel

Camus’ Revolutionsstück „Die Gerechten“ wird in Volker Löschs Inszenierung Occupy-Grundkurs.

Stuttgart - Ihre Meinung ist gefragt, liebe Zuschauer, sagt Volker Lösch. Wie wollen Sie die Welt verändern? Der eiserne Vorhang bleibt geschlossen, die Schauspieler geben Unterricht in Konsensabstimmungen. Heftige Buhs und Bravorufe für das Mitmachtheater am Samstag im Schauspielhaus.

Da warten sie, feurigen Blicks und angespannt wie Federn. Die Revolution, die Revolution. Herzklopfen ist geradezu zu sehen, der Wille zur Tat aus jedem herausgeschossenen Wort zu hören. „Wir werden ihn töten!“ Dora, Stepan, Janek, Boris, Alexis stehen mit dem Rücken zur eisernen Wand, auf die diese Parole projiziert ist: „Endlich handeln“. Sie wollen die Diktatur stürzen, den Großfürsten umbringen. Pathetische Umarmungen, „wir sind alle Brüder“.

Wie wäre es, wenn es wirklich so wäre? Deshalb: erst mal Schluss mit Camus. Der Vorhang bleibt geschlossen. Licht an im Zuschauerraum. Großfürsten haben wir keine mehr im Land, aber die Verhältnisse sind doch auch hier und heute schlecht!

Was wäre alles möglich, wenn wir nur wollen!

829 000 Millionäre, ein superreiches Prozent – und die restlichen 99 Prozent? Bitte sehr, das Schicksal also selbst in die Hand zu nehmen, geehrte Damen und Herren! Was wäre alles möglich, wenn wir nur wollen! Als Konsensabstimmung statt mit ungerechten schlichten Mehrheitsentscheidungen! Beschwörerisch werben die Schauspieler fürs Mitmachen, und weil man andere leichter dazu bringt, wenn man selbst den Anfang wagt, machen es Lisa Bitter, Marco Albrecht, Jan Jaroszek, Matthias Kelle, Markus Lerch vor. „Ich arbeite oft 60 Stunden in der Woche und verdiene 1800 Euro“, „Ich habe meinen Bausparvertrag gekündigt, um in den Urlaub fahren zu können“. Es folgen Bekenntnisse illegal beschäftigter Krankenpfleger, versäumter Altersvorsorge, Ärger über die Fernbeziehung, zu der man aus Berufsgründen gezwungen ist.

Regisseur Volker Lösch und Dramaturg Jörg Bochow haben auch fleißig recherchiert und Zuschauer befragt. Befristete Arbeitsverträge, drei Jobs und trotzdem Sozialhilfe, kein Geld für Zahnbehandlung, solche Sachen. Beispiele von Occupy-Aktionen werden noch auf Video vorgeführt, dann aber los: „Möchten Sie formulieren, warum Sie zu den 99 Prozent gehören?“ Möchten sie schon, aber weil die Leute keine so ausgebildeten Stimmen haben, müssen sie die Sprach-Regeln lernen, die von den Mitgliedern der Occupy-Bewegung für Demonstrationen und Versammlungen erfunden wurden. Winken für Zustimmung, Abwinken für Ablehnung und so fort. Jaroszek führt die Handzeichen vor wie die Stewardessen die Anweisungen für das Notfallverhalten an Bord eines Flugzeugs.

Zwischendurch wird tatsächlich wieder Camus gespielt

Keine Notrutschen, aber Türen gibt es im Theater. Und die finden die Zuschauer ganz allein, die keine Lust haben, von den Sorgen ihrer Sitznachbarn zu erfahren. Die meisten bleiben, einige machen mit. Reden drauflos, werden unterbrochen, „Ach ja, Mikro-Check“, sagen sie dann und bemühen „das menschliche Mikrofon“. Zumindest den Kirchgängern unter den Zuschauern fällt die Einübung leicht: Was einer zu sagen hat, sprechen die Umsitzenden laut nach, so hört auch der in der ersten Reihe links, was der andere in der letzten Reihe rechts zu sagen hat. Etwa, dass sie zu den 99 Prozent gehören, weil sie eine sehr kleine Rente haben, weil sie ihren Kontostand kennen, weil sie sich weigern, ihre Seele zu verkaufen, oder weil sie eben keine Million haben.

Manche wollen aber immer noch kein Occupy-Sprech lernen, noch sich zu Sozialrevolutionären ausbilden lassen und tun das mit den alten Theatermitteln kund. Applaus oder Buh, wenn andere ganz ohne menschliches Mikro brüllen: „Ich würde gern wieder Camus sehen!“, „Theater, keine Versammlung!“, „Camus! Camus!“. Zwischendurch wird tatsächlich wieder Camus gespielt, laut und schnell, und der Dramatiker thematisiert ja, was auch die Menschen heute an gesellschaftlichen Sorgen plagt.

So banal die Mitmachidee sich in der praktischen Umsetzung in Teilen erweist, so unterhaltsam und plausibel ist sie doch: Spielend verschaffen die Akteure dem Occupy-Grundkurs weitere Diskussionsnahrung: Wie verändern wir die Welt? Kann der Einzelne etwas gegen Ungerechtigkeit unternehmen? Wer ist der beste Revolutionär? Wie steht es mit der Bereitschaft zur Gewalt?

Gewalt fordert keiner

Janek und Dora wollen aus Liebe zur Menschheit die Welt retten, küssen sich auch gern und schwelgen in Todesfantasien, während Stepan (Markus Lerch) die Liebe schnurz ist. Er hat Folter erlebt, und er hasst die Machthaber. Er will auch nicht vom Volk geliebt werden, er will Gerechtigkeit um jeden Preis. Janek weigert sich aber, auch die Kinder zu töten, die in der Kutsche des Großfürsten sitzen. Stepan baut sich in Alphatierhaltung vor Janek auf: „Es gibt keine Grenzen“ – „Es gibt Grenzen“. „Menschlichkeit ist Luxus“ – „Das ist ja neue Gewaltherrschaft“.

Der Hardcore-Revolutionär hat keine Lust auf Konsensgetue und „Open-End-Laberei“. Entsprechend enttäuscht ist er, als das Publikum bei der nächsten Mitmachaktion zum Thema Waffenexport der baden-württembergischen Firma Heckler und Koch zwar mehrheitlich winkend abstimmt, dass man gegen deutsche Waffenexporte überhaupt ist, aber sich insgesamt nur Reformen wünscht und Bier, um sich Aktionen einfallen zu lassen. Revolution, neue Gesellschaftsordnung, Gewalt fordert keiner. Mehr Freizeit und ein Flashmob, um die Landesregierung an eine Forderung von Gratis-Kindergärten zu erinnern – das ist am Samstagabend das Maximum an Aktionsbereitschaft.

Stepan hat genug. „Jetzt können Sie winken oder abwinken, das ändert eh nix!“ Licht aus. Eine Explosion und Ende. Und ein schöner Tumult. Buh und Bravo für die Regie, Stürme von Applaus für die Schauspieler. Der Regisseur nimmt das Tosen sichtlich erfreut zur Kenntnis.

„Das war die beste Camus-Inszenierung, die ich jemals gesehen habe“, sagt ein Mann zu seiner betagten Begleiterin. Der Enthusiast ist höchstens 20 Jahre alt. Es mag Volker Lösch vornehmlich um das Aufrütteln und um eine Bewusstseinsschulung der Menschen gehen, einen mindestens dürfte er auch fürs Theater gewonnen haben. Angesichts der Altersstruktur des Publikums in den Schauspielhäusern der Republik kein kleiner Erfolg.