Kunst in den Calwer Passagen Foto: Petsch

Sie sind nur eine Episode. Aber eine bemerkenswerte. Fünf Wochen noch bespielen Künstler die Calwer Passage, nutzen die Läden, bevor diese saniert und umgebaut werden.

Sie sind nur eine Episode. Aber eine bemerkenswerte. Fünf Wochen noch bespielen Künstler die Calwer Passage, nutzen die Läden, bevor diese saniert und umgebaut werden.

Stuttgart - Es war eine typische Stuttgarter Episode. Während einer Podiumsdiskussion über das Kulturleben in der Stadt begehrte eine junge Frau aus Bratislava das Wort und sagte sinngemäß, Stuttgart sei ein Dorf, wenig aufregend und wesentlich langweiliger als ihre alte Heimat. Was machte das Publikum? Es jubelte.

Anderswo wäre eine solche Reaktion undenkbar, da wären sofort Lokalpatrioten in die Bresche gesprungen und hätten widersprochen. Doch gegen Stuttgarter sind Flagellanten Waisenknaben, in der Kunst der Selbstgeißelung sind wir wahrlich unerreicht. Klar, der Pietist protzt nicht, und Überschwang erträgt der Schwabe nur in der Kritik. Wir wollen heute einmal eine Ausnahme machen und sagen ausdrücklich: Net bruddelt isch net g’nug g’lobt! 

Deshalb ein großes Lob an Demian Bern, Laura Bernhardt, Helmut Dietz, Astrid Schindler, Antonia Schneemann und all die anderen Helfer, die mitten in der Stadt einen Ort beleben, der darnieder lag. Man kann natürlich schimpfen auf die bösen Bürokraten und die gierigen Investoren, und darüber, dass man kein Steuergeld bekomme. Weil die Stadt ohnehin nur Hochkultur möge, ansonsten aber keine Kultur habe. Und sich dann wundern, dass nichts passiert. Man kann aber auch einfach machen.

Als Bernhardt durch die leere Passage ging, bemerkte sie die vielen leeren Läden, forschte nach, stellte fest, dass die Piëch Holding die Passage gekauft hatte und sie umbauen wird. Und dachte sich, warum können wir diesen Ort nicht nutzen? Schließlich sind Künstler stets auf der Suche nach Räumen, in denen sie arbeiten und sich präsentieren können. „Dieser Ort ist prädestiniert dafür“, sagt Demian Bern. Gebaut 1978 aus Naxosmarmor und indischem Granit nach dem Vorbild der Galleria Vittorio Emanuelle in Mailand war sie ein Einkaufstempel, könnte aber auch ein Elfenbeinturm sein. 

Kunst gegen Kommerz! Diese Parole liegt nahe. Doch das greift zu kurz. Und wäre auch albern, schließlich hat der Besitzer die leer stehenden Läden den Künstlern bis 18. Juni umsonst überlassen, und trägt auch die Nebenkosten. „Wir haben da offene Türen eingerannt“, sagt Bernhardt, „wir fühlen uns willkommen und wertgeschätzt.“

Dass der Besitzer sie auch nutzt, auf die Passagen aufmerksam zu machen, Kunstinteressierte anzulocken, die später mal als Konsumenten wiederkommen sollen, ist ihnen klar. Das bietet ihnen Reibungsfläche. In einer Gesellschaft, in der fast alles ein Preisschild bekommt und kaum einer wie ein Bettelmönch leben mag, wollen sie Fragen aufwerfen, zum Nachdenken zwingen. So stellt Amanda Moore das Kommunistische Manifest Werbefilmen gegenüber, und immer wieder geht es um „Existenzfragen des Künstlers“. Bern etwa verdient sein Geld als Gestalter. Und finanziert damit seine Projekte.

Für die Calwer Passage bekamen sie Anfang April die Schlüssel, da blieb kaum noch Zeit, Sponsoren aufzutreiben. Immerhin, von der Stadt bekamen sie kurzfristig 16 9000 Euro. Dass muss reichen. Der Rest ist Herzblut. Die Episoden geben ihnen die Chance „andere Menschen zu erreichen“: Nachtschwärmer auf dem Weg zur Theo-Heuss, Bummler auf dem Weg in die Königstraße Angestellte auf dem Weg ins Büro. Die will man neugierig machen, in die neun Läden locken, die jeweils eine Woche lang von einem Künstler bespielt werden.

In ihrer Episode bekamen Jan Löchte und Helmut Dietz Besuch von mehreren jungen Männern, die auf ihrem Weg in eine Bar die Skulptur des Duos betrachteten – ein Pendel, dass sich durch Wasserkraft bewegt. Man kam ins Gespräch, die Besucher erzählten, dass sie bei AMG Autos veredeln. Es ergab sich eine Debatte über Kunst, und für die Besucher ist natürlich ein schönes Auto auch ein Kunstwerk. Und wenn sie einen Motor gebaut haben, signieren sie ihn mit ihrem Namen. Wie ein Künstler sein Werk. 

Solche Begegnungen wünschen sich die Macher. „Kunst braucht mehr Anerkennung, aber auch mehr Austausch.“ Und das nicht nur mit dem Publikum, sondern auch untereinander. Deshalb haben sie vor allem Künstler und Institutionen aus der Region geladen, die sich mitten in der Stadt zeigen, aber auch Kontakte knüpfen können. Es ist so eine Art Leistungsschau der hiesigen Kulturszene.

Übrigens ist das nicht neu an diesem Ort. 1979 hatte Bildhauer Otto Herbert Hajek den neunten Internationalen Künstlerkongress nach Stuttgart geholt, der die Innenstadt zur begehbaren Plastik machte. In der Calwer Passage legte man Nesselstoff aus, die Passanten färbten die Füße und hinterließen so ihre Spuren. Später umrahmte der Stoff den Schlossplatz. „Spurensicherung“ hieß das und war natürlich eine Kritik an der Rasterfahndung nach der RAF. Heute hinterlässt man Spuren anderer Art. Den Umgang mit unseren Daten im Netz ist ein Thema für die Episode von Hannes Grassegger. Er wird die Passage überwachen. Big Hannes is watching you.

Dinge auf den Kopf zu stellen, Festgefügtes schwanken zu lassen, darin ist Bern erfahren. Mit den Kollegen Helmut Dietz, Pablo Wendel, und Kestutis Svirnelis hatte er die Idee für den „Utopia Parkway“, jenen Abenteuerspielplatz für Künstler im zukünftigen Einkaufszentrum Gerber. Bei einem Vortrag inszenierten sie sich einst als Mobile. Sie schwebten durch den Raum, warfen ihre Projektion hinter den Zuhörern an die Wand, damit diese die Köpfe drehen mussten.

Wendel hat sogar einmal die Chinesen zum Rotieren gebracht. 2006 verkleidete er sich als ein Tonsoldat der Terrakotta-Armee in der Kaiserstadt Xian. Einen Fisch ließ der gelernte Bildhauer an einem Wetterballon fliegen, und mit Solarzellen zapfte er die Leuchtreklame in der Marienstraße an und betrieb damit eine Glühbirne. In der Calwer Passage fehlt er, weil er die Idee gerade ausbaut. Er baut aus alten Straßenpfosten Windräder und produziert „Kunststrom“. Damit nicht nur Stuttgart ein Licht aufgeht.