Wie wählen die die Deutschtürken? Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Die Einmischung des türkischen Präsidenten in den Wahlkampf wirkt bei den Deutschtürken offenbar nur wenig. Doch es gibt durchaus negative Effekte.

Stuttgart - Dass viele Deutschtürken am Sonntag die AfD wählen werden, ist nicht zu erwarten, auch wenn Recep Tayyip Erdogan die Partei nicht auf seine Liste von „Feinden der Türkei“ gesetzt hat wie CDU, SPD und Grüne. „Die Leute lassen sich nicht von Erdogan beeinflussen“, ist ein 25 Jahre alter Versicherungskaufmann aus Stuttgart-Mitte überzeugt. Er selbst kann zwar nicht abstimmen – die SPD wäre seine Favoritin –, der Antrag auf den deutschen Pass aber läuft. „Ich schaue, was mir hier als Bürgerin gut tut“, sagt auch eine 39-jährige Buchhalterin aus Heilbronn, die mit ihrem Ehemann auf dem Klein-Istanbul genannten Areal bei der Feuerbacher Ditib-Moschee unterwegs ist. „Erdogan hat nicht das Recht, die Leute hier zu beeinflussen“, findet die Frau. Sie ist aber auch verärgert wegen der Reaktionen auf deutscher Seite. „Da wird viel Wirbel gemacht. Diese ganze Hetzerei muss aufhören“, sagt die 39-Jährige, die langsam nicht mehr weiß, wo sie hingehört, obwohl sie doch hier geboren ist und „nur Schwäbisch kann“. Auf jeden Fall wird sie wählen gehen, und zwar eine der von Erdogan attackierten Parteien.

Viele Deutschtürken wählen SPD

Wenn man sich umhört an der Mauserstraße in Feuerbach, dann hat man nicht den Eindruck, dass der türkische Präsident viel erreicht mit seinem Boykottaufruf. Viele bleiben bei ihrer Präferenz für die SPD. Überraschend oft hört man auch Positives über die Kanzlerin. „Ich werde CDU wählen“, sagt ein 26-jähriger Softwareingenieur aus Bad Cannstatt. „Was in der Türkei passiert, interessiert mich nicht – Erdogan kann ich sowieso nicht leiden.“ Für ihn ist wichtig, dass die AfD wenig Gewicht bekommt. Ein 34 Jahre alter Maschinenführer aus Vaihingen, der nur den türkischen Pass hat, würde auch die Union wählen. „Angela macht das doch gut“, sagt er in geradezu familiärem Ton. Es passt ihm gar nicht, wie Erdogan „über die Türken in Deutschland redet“. Eine Kritik will der 34-Jährige dann aber doch loswerden: „Warum lügt man uns beim EU-Beitritt seit 40 Jahren an?“

Es ist trotzdem nicht leicht zu sagen, wie sich Erdogans Einmischung auswirken wird. Wie viele wahlberechtigte Deutschtürken leben überhaupt in Stuttgart? Etwa 25 000 Personen im Wahlalter seien es, sagt Thomas Schwarz, der Leiter des Statistischen Amts. Von diesen seien etwa 8000 eingebürgert, haben also den deutschen oder zwei Pässe und dürfen wählen. Bei insgesamt 375 000 Wahlberechtigten in beiden Stuttgarter Wahlkreisen mache diese Gruppe „etwa zwei Prozent aus“, sagt Schwarz.

Wenig Aktivitäten in türkischen Vereinen

Für die Parteien sind die Deutschtürken eine wichtige, doch nicht entscheidende Wählergruppe. Spezielle Werbemittel hat man nicht. Vor etlichen Jahren habe es „mehrsprachiges Material auf Türkisch gegeben“, sagt Fritz Mielert, der Kreisgeschäftsführer der Grünen. Heute setzt man auf persönliche Kontakte von Parteimitgliedern zu türkischen Vereinen und Gruppen. Mit Celik Aytekin sei ein türkischstämmiges Mitglied im Kreisvorstand vertreten.

Ähnlich hält es die Stuttgarter CDU, die mit Ersin Ugursal einen Deutschtürken in ihren Reihen hat. An dessen Seite hat Kandidat Stefan Kaufmann kürzlich türkische Gewerbetreibende an der Tübinger Straße besucht, erzählt Kreisgeschäftsführer Bastian Atzger. Das spreche sich herum. Die Gruppe der Deutschtürken sei aber „sehr heterogen“ und nicht einfach mit Wahlbotschaften zu erreichen. Und Erdogans „Breitseite“ unter anderem gegen die Union begünstige intensive Wahlkampfaktivitäten in der türkischen Community auch nicht.

Kandidat: „Das Klima ist vergiftet“

Das gilt für beide Seiten. Das weiß kaum einer besser als Matic Karaahmetoglu, Kandidat der SPD in Ludwigsburg und für die Partei Schlüsselfigur bei der Ansprache von Deutschtürken in der Region. „Erdogan vergiftet das Klima“, sagt der 49 Jahre alte Jurist, der heftigen Anfeindungen ausgesetzt ist. „Es ist unangenehmer geworden, sich in der türkischen Community zu bewegen“, erklärt der Gastarbeitersohn. Weshalb er wie andere Parteien auf Besuche bei Kultur- und Moscheevereinen verzichtet. Von dort kämen dieses Mal auch keine Einladungen. Mit der Folge, dass die Vereine ihre Anliegen der Politik nicht mehr vermitteln können. Dennoch glaubt Karaahmetoglu nicht, dass Erdogan viel Erfolg haben wird. „Vielleicht zehn bis 20 Prozent lassen sich beeinflussen“, schätzt der Sozialdemokrat, die anderen seien klug genug, selbst zu entscheiden.

Das glaubt auch Kerim Arpad vom Deutsch-Türkischen Forum in Stuttgart. „Der Großteil wird zur Wahl gehen“, sagt Arpad, die liberal eingestellten ohnehin. Eine „gewisse Enttäuschung“ hätten aber auch bei dieser Gruppe die deutschen Reaktionen auf Erdogans Angriffe ausgelöst, nicht zuletzt die Ankündigung von SPD-Kandidat Martin Schulz, er werde als Kanzler die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei abbrechen. Wo die SPD doch seit Langem die bei weitem erfolgreichste Partei unter den Deutschtürken ist.

Kein Wahlaufruf der Vereine

Aktuelle Umfragen legen nahe, dass die Sozialdemokraten dieses Mal vielleicht etwas weniger Stimmen von Türkischstämmigen bekommen könnten. Gökay Sofuoglu, Bundesvorsitzender der Türkischen Gemeinde und SPD-Stadtrat in Fellbach, setzt hingegen darauf, dass die laufende Debatte sogar mehr Leute mobilisiert, am Sonntag wählen zu gehen. Denn die Beteiligung von Deutschtürken ist bisher alles andere als berauschend. Genaue Zahlen gibt es nicht, sie seien aber vermutlich „sehr gering“ und liege vielleicht bei 25 bis 30 Prozent, sagt Gökay Sofuoglu. Die türkischen Organisationen und Vereine im Land leisten dieses Mal auch keinen gemeinsamen Beitrag, die Wahlbeteiligung zu erhöhen. Vor der Landtagswahl hatten sie sich zu einem konzertierten Wahlaufruf zusammengetan („Oy hakkini kullan – Nutze dein Wahlrecht“), vor allem um ein Erstarken der AfD zu verhindern. Selbst die Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD), die Erdogans AKP sehr nahe steht, war dabei. Vor dieser Wahl ist dieses Bündnis nicht mehr zustande gekommen. „Wir haben es versucht, aber die trauen sich nicht“, sagt Gökay Sofuoglu. Auf der anderen Seite hätten die Parteien hier nicht mehr den Mut, Forderungen zugunsten von Migranten zu erheben, etwa das kommunale Wahlrecht für Ausländer. „Die lassen sich alle von der rechten Propaganda treiben“, sagt der Vorsitzender der Türkischen Gemeinde. Sofuoglus Eindruck: Deutschtürken und die demokratischen Parteien verhielten sich in diesem Wahlkampf gegeneinander „sehr reserviert“.