Die Qual der Wahl: Für die Taktiker unter den Wählern sind die Optionen nicht sehr überschaubar. Foto: dpa

Taktisch zu wählen ist vor allem in höheren Bildungsschichten en vogue. Doch bei dieser Bundestagswahl ist die Lage selbst für gut informierte Bürger heillos unübersichtlich. Der Politikwissenschaftler Frank Brettschneider versucht Wählern Orientierung zu liefern, die spezielle Ziele mit ihrer Stimme verfolgen.

Berlin - 40 Prozent der Wahlberechtigten in Deutschland sind laut der letzten Umfrage des ZDF-Politbarometers noch unentschlossen, wo sie bei der Bundestagswahl am 24. September ihr Kreuz machen. Bei der letzten Bundestagswahl 2013, so das Institut, lag der Wert zu diesem Zeitpunkt, nicht mal eine Woche vor der Wahl, noch deutlich darunter. „Das liegt daran, dass es mit den Grünen, der Linken, der FDP und der AfD so viele kleine Parteien gibt, die gute Chancen darauf haben, in den Bundestag einzuziehen“, sagt Frank Brettschneider, Professor für Kommunikationswissenschaften an der Uni Hohenheim. Unter den Unentschlossenen dürften so viele taktische Wähler sein wie lange nicht: „Und je unklarer die Lage ist, desto komplizierter wird es auch für den taktischen Wähler.“

Der ist ein gut untersuchtes Wesen. Daten der Forschungsgruppe Wahlen vom ZDF-Politbarometer zufolge sind taktische Wähler vor allem unter sogenannten Stimmensplittern zu finden – also Wählern, die ihre Erststimme der einen und ihre Zweitstimme einer anderen Partei geben. „Die Wahlumfragen zeigen, dass taktische Wähler hochgebildet, politisch sehr gut informiert und interessiert sind“, sagt Frank Brettschneider. Ihre Motivation: Ihre Stimme so effektiv wie möglich einzusetzen. Die meisten taktischen Wähler sympathisieren mit FDP und den Grünen. Bei der letzten Bundestagswahl haben 23 Prozent der Wähler ihre Stimmen gesplittet. Insgesamt ist eine steigende Tendenz festzustellen.

„Aber nicht jeder Stimmensplitter ist auch ein taktischer Wähler“, sagt Brettschneider. Rund die Hälfte von ihnen wählte einfach einen Kandidaten aus ihrem Wahlkreis, den sie schätzt oder der ihr sympathisch ist, während sie die zweite Stimme unabhängig davon der Partei gibt, der sie am nächsten steht. Der taktische Wähler dagegen hat andere Motive und hängt oft einem überparteilichen politischen Lager an – oder will unbedingt ein solches schwächen. Zehn bis 15 Prozent, schätzt Brettschneider, werden dieses Jahr taktisch wählen. Da es laut aktuellen Umfragen eng wird in diesem Jahr, könnte das sogar die Wahl entscheiden.

Aber wie? Schließlich wird nicht unbedingt auf den ersten Blick klar, welche Wahl was für Auswirkungen haben könnte. Fünf Motive und etliche taktische Überlegungen für den Wähler, der strategische Ziele mit seiner Stimme verfolgt.

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Merkel muss weg!

Denjenigen, die diesen Satz geprägt haben, wird vielleicht nicht gefallen, was taktische Abwägungen nahelegen, wenn als höchstes Ziel gilt, die Kanzlerin abzuwählen. Wer der Meinung ist, dass 12 Jahre Merkel genug sind, sollte laut Brettschneider zwar auf keinen Fall die CDU wählen. „Aber auch die AfD und die Linken nicht.“ Die Begründung des Politik-Professors: Die beiden Parteien gelten mit den anderen als nicht koalitionsfähig und können demnach auch an einer neuen Regierungsbildung nur schwer beteiligt sein. „Am cleversten wäre es, hier SPD zu wählen“, sagt Brettschneider – da sie als zweitstärkste Kraft der verbleibenden Parteien immer noch die besten Chancen hat, einen neuen Kanzler zu stellen.

Schluss mit Groko!

Große Koalitionen sind für die Demokratie auf Dauer nicht gesund. Wer denkt, dass nach vier Jahre Groko damit Schluss sein sollte, hat es „verdammt schwer“, wie Frank Brettschneider sagt. Dem konservativen Lager empfiehlt er, die FDP zu wählen und den traditionellen Juniorpartner der Christdemokraten möglichst groß zu machen. „Wer links der CDU steht, für den ist die SPD aber auch keine gute Wahl, da die Gefahr besteht, dass dann wieder nichts anderes als die große Koalition möglich ist“, sagt Brettschneider. Die Grünen zu wählen wäre eine Idee, aber mit Blick auf die Bundestagswahl in vier Jahren wären sie dann womöglich an die CDU gebunden. Bliebe unter den koalitionsfähigen Parteien also noch die FDP, was laut Brettschneider „selbst für Parteistrategen ein ziemlich kühner Gedanke“ wäre. Und wie viele Sozis im Herzen ihr Kreuz aus Kalkül bei der FDP machen könnten, bleibt ohnehin fraglich.

Kein Rot-Rot-Grün!

Wer fürchtet, dass sich SPD und Grüne doch mit den Linken zusammenraufen können – obwohl das von Spitzenpolitikern aller Beteiligten als unwahrscheinlich bezeichnet wurde – und so ein Linksbündnis um jeden Preis verhindern will, hat laut Brettschneider zwei Möglichkeiten: „Entweder die CDU wählen und riskieren, dass es wieder zu einer großen Koalition kommt.“ Oder die FDP, in der Hoffnung, dass es für Schwarz-Gelb reicht – oder für „Jamaika“ mit den Grünen.

Liberale raus!

Angesichts aktueller Wahlumfragen gilt die Rückkehr der Liberalen in den Bundestag fast als gesetzt. „Dass es anders kommt, ist äußerst unwahrscheinlich“, sagt Frank Brettschneider von der Uni Hohenheim. Bliebe für stramme FDP-Gegner also noch die Möglichkeit, zu verhindern, dass die FDP an der nächsten Regierungsbildung beteiligt ist. „Wer das möchte, dem würde ich entweder zur Wahl der SPD raten“, sagt Brettschneider, „oder zu den Grünen.“ Wobei zweiteres riskanter sei: „In dem Szenario, in dem die CDU sowohl mit den Grünen oder der FDP regieren könnte, würde die CDU wahrscheinlich zuerst mit der FDP flirten.“ Und denkbar wäre auch, dass es nur für alle drei zusammen reicht.

Afd schwächen!

Wählen gehen! „Jede Stimme, die einer anderen Partei geschenkt wird, schwächt die Rechtspopulisten letztendlich“, sagt Frank Brettschneider. Denn je mehr Stimmen die anderen Parteien im Bundestag für sich verbuchen können, desto kleiner wird die Prozentzahl unter dem blauen Balken.