Alles im Griff: Zwei muskelbepackte Cowboys zeigen keine Angst vor Körperkontakt in aller Öffentlichkeit Foto: Jörg Michel

Coming-out beim Bullenreiten: Besuch bei einem schwul-lesbischen Rodeo in Kanada.

Strathmore - Charlie Rooney hat heute sein erstes Mal. Der junge Cowboy trägt einen Helm mit einem Augengitter und eine trittsichere Weste mit der Startnummer 207. Er blickt seinem Gegenüber tief in die Augen, dann klettert er in die Box aus Metall. Plötzlich öffnet sich die Tür, der Stier stürmt hinaus und schlägt wild um sich. Charlie klammert sich an dem Lasso fest, das dem Tier um den Leib gebunden ist. Vier Sekunden hält sich Charlie auf dem Rücken des Stiers. Dann fällt er in den Staub. Als er die Arena verlässt, braust Applaus auf. Danach Umarmungen, Schulterklopfen, sogar ein flüchtiger Kuss auf die Wange. Charlie hat es geschafft. Den Stier hat er heute zwar nicht besiegt, dafür hätte er noch zwei Sekunden länger durchhalten müssen. Gewonnen hat er trotzdem.

Charlie ist schwul und hatte gerade sein Coming-out. Auf einem Rodeoplatz, bei über dreißig Grad Hitze, in Strathmore, einem 12 000-Einwohner-Örtchen in der Prärie von Kanada. „Es hat mich Überwindung gekostet hierherzukommen“, gibt der 23-jährige Student zu, der in einem Vorort von Calgary lebt. „Aber ich bin so froh, dass ich mir ein Herz genommen habe.“ Einmal im Jahr ist das Stadion der Agrargenossenschaft von Strathmore Schauplatz eines speziellen Rodeos für Schwule und Lesben – des einzigen dieser Art in Kanada.

Es ist eine Art Christopher Street Day in der Provinz: Am Eingang grüßt ein Cowboy mit einer Federboa um den Hals, auf einer Bühne spielt eine Country-Band Songs der Village People. Auf der Festwiese ist eine Zeltstadt aufgebaut, in der Teilnehmer und Besucher wohnen. An vielen Wohnwagen und Pferdeanhängern wehen Regenbogenfahnen. Auf der Weide grasen Gäule mit glitzernden Sternen auf ihrem Hinterteil oder einem goldenen Kettchen am Schweif.

Bullenreiten im schrillen Fummel

Bei dem schwul-lesbischen Rodeo geht es um Spaß und Sport. Einerseits messen sich die etwa 100 Wettkämpfer in Disziplinen, die man auf einem normalen Rodeo nicht finden würde. Beim „Goat Dressing“ etwa müssen sie einer Ziege möglichst schnell eine Calvin-Klein-Unterhose überstreifen. Beim „Steer Decorating“ werden Stieren farbige Taschentücher um den Schwanz gewickelt. Beim „Wild Drag“ besteigen die Kandidaten die Tiere im schrillen Fummel, verkleidet als Dragqueen, Astronaut oder Micky Maus.

Anderseits ist der dreitägige Event aber auch eine ausgesprochen maskuline Sache. Es gibt Preisgelder und gefährliche Wettbewerbe wie etwa das Bullenreiten, Kälberfangen oder Pferderennen – wie bei jedem anderen Rodeo eben auch. Nichts für Weicheier also. Wer dabei besteht, der ist endgültig aufgenommen in der Welt der schwulen Cowboys und lesbischen Cowgirls. Wie Charlie Rooney. Nach seinem bravourösen Ritt ist der schlaksige Junge mit dem hellbraunen Cowboyhut einer von ihnen. Bisher wussten nur seine Eltern und ein paar enge Freunde, dass er auf Jungs steht. Das hat sich jetzt geändert. 5000 Zuschauer waren Zeugen seines Auftritts, darunter Reporter und Fotografen. In der Lokalpresse ist das schwule Rodeo der Hit. Jetzt gibt es kein Zurück mehr.

Für schwule Cowboys ist das Rodeo der Höhepunkt des Jahres. Hier feiern sie und messen sich mit Gleichgesinnten. Das ist nicht selbstverständlich. Zwar gehört Kanada zu den fortschrittlichsten Ländern der Welt: Seit Jahren können Schwule und Lesben zwischen Halifax und Vancouver heiraten und sogar Kinder adoptieren. Auf dem Land aber gibt es noch immer Vorurteile. Vor allem im Cowboy-Country von Alberta, wo die Menschen genau zuhören, was der Dorfpfarrer predigt.

Proteste gegen das „unsittliche Treiben“ sind selten geworden

„Als wir vor 18 Jahren das erste schwule Rodeo veranstalten wollten, haben wir keinen Farmer gefunden, der uns Tiere für die Wettkämpfe zu Verfügung stellen wollte“, sagt Greg Holsworth von der „Alberta Rockies Gay Rodeo Association“, die das Rodeo veranstaltet. Im zivilen Leben ist Greg Personalchef bei einem Verkehrsunternehmen. Heute trägt er Cowboystiefel, eine knallenge Bluejeans mit einer riesigen Gürtelschnalle und ein lila Shirt mit dem Aufdruck „Rodeo Tucke“.

Rodeo verbindet – auch Homo und Hetero

Greg berichtet, dass auch heute noch vereinzelt Nörgler beim Rodeo auftauchen, um gegen das angeblich unsittliche Treiben zu protestieren. Immerhin trägt man hier seine Muskelpakete offen zur Schau, und so manches Badehose könnte kaum knapper geschnitten sein. Doch das ist die große Ausnahme. Die Zeiten ändern sich, auch im „Bible Belt“ von Kanada. Rodeos gehören in diesem Teil des Landes zum Lebensstil dazu, und das verbindet – egal ob Hetero oder Homo. „So mancher alteingesessene Farmer schaut sonntags nach dem Gottesdienst bei uns vorbei und freut sich an unserer Show“, sagt Greg. „Die Menschen hier sind liberaler, als sie oft zugeben.“

Von Fortschritten berichtet auch Judy Munson. Die Endfünfzigerin nimmt seit 17 Jahren an dem Rodeo teil. „Am Anfang waren wir eine Minigruppe und haben die Öffentlichkeit gescheut“, sagt sie. Als Lehrerin musste sie um ihren Job fürchten, weil sie lesbisch ist. Heute hat sich Judy mit ihrer Frau eine Ranch im Süden von Alberta gekauft mit 15 Pferden und ein paar Hühnern. Mit ihren Nachbarn kommt sie gut klar, sagt sie. Bisweilen hilft man sich beim Viehauftrieb oder beim Kastrieren der Bullen. Wie das eben so üblich ist hier. „Wir haben das Bild von Schwulen und Lesben auf dem Land verändert“, ist sie überzeugt.

Geschichten wie diese haben letztlich auch Charlie Rooney Mut gemacht. Auf dem Rodeo in Strathmore hat er gelernt, dass es noch andere schwule Cowboys gibt wie er. Die genauso gerne ausreiten, hart zupacken und die raue Wildnis mögen. „Ist ja nicht ausgeschlossen, dass ich auf diesem Rodeo auch einen Freund finde“, sagt Charlie und schmunzelt. Es wäre sein erster.