Der Frauenarzt warnte, dass sie in dem Zustand keine Kinder bekommen könnte. Foto: dpa-tmn

In Sonja Fischer Leben gab es Jahre, da drehte sich alles ums Essen. Zum Schluss wog sie bei einer Größe von 1,70 Metern 46 Kilogramm. Die heute 25-Jährige ist in Behandlung bei Anja Simon, die in Degerloch eine Praxis für Bulimie-Kranke betreibt.

Degerloch - Bei Sonja Fischer (Name geändert) fing es schleichend an: Im Alter von 17 Jahren wurden die Selbstzweifel immer stärker. „Ich habe dann mit Radikaldiäten versucht abzunehmen“, erzählt die heute 25-Jährige. Wenn sie gegen eine der selbstauferlegten Ernährungsregeln verstieß, kam es immer häufiger dazu, dass sie sich erbrach. „Irgendwann war es chronisch“, sagt sie.

Die Bulimie hat sie verheimlicht

Es folgten Jahre, da drehte sich für Sonja Fischer alles ums Essen, darum, es wieder loszuwerden, und dass niemand etwas davon mitbekommt. „Selbst wenn ich mir morgens gesagt habe, heute mache ich es nicht, habe ich es trotzdem wieder getan. Dann war das Versagensgefühl noch größer“, beschreibt sie die Zeit, in der sie sich mehrmals am Tag übergab. Trotz des wunden Gaumens von der Zahnbürste, die den Würgereflex auslösen sollte. Trotz des permanenten Sodbrennens, weil ihre Magenklappe sich nicht mehr richtig schloss. Obwohl ihre Zähne unter dem regelmäßigen Kontakt mit Magensäure litten, die Haut schlecht wurde, die Wangenpartie ausgeprägt. Und entgegen der Warnung ihres Frauenarztes, dass sie in dem Zustand keine Kinder mehr bekommen könne. Bei einer Größe von 1,70 Metern wog Fischer damals 46 Kilogramm.

Irgendwann war sie „übertherapiert“

Seit dem Jahreswechsel ist Fischer symptomfrei. Alle 14 Tage sucht sie nach wie vor die Praxis von Anja Simon in Degerloch auf. Als Fischer vor zwei Jahren das erste Mal zu Simon gekommen war, hatte sie, wie sie es nennt, einen „relativen Therapiemarathon“ hinter sich, von ambulant bis stationär. „Ich war eigentlich übertherapiert. Irgendwann durchschaut man einfach die immer gleichen Fragen. Oder man kommt sich veralbert vor, weil sie einen in die Musiktherapie stecken. Für manche mag das funktionieren, aber ich habe mich immer gefragt, wie eine Blockflöte dazu beitragen kann, dass ich meine Gefühle verstehe.“ Nach einem stationären Aufenthalt war sie zwar von den Abführmitteln entwöhnt, mit denen sie die aufgenommene Nahrung auf anderem Wege aus ihrem Körper abgeführt hatte. Aber die Bulimie hatte sie weiter im Griff. Und dann tat Fischer etwas, das sie heute eine sehr schlechte Idee nennt: Sie zog von zu Hause aus. Das Zusammenleben hatte nicht mehr geklappt: „Meine Mutter war völlig überfordert und tat Dinge, die nicht gerade hilfreich waren, zum Beispiel meine Freunde zu kontaktieren. Mein Vater versuchte es mit Druck, drehte, wenn ich zu Besuch war, die Toilettenspülung ab, damit er mich erwischen konnte. Von meiner Schwester gab es spitze Bemerkungen.“ Das Alleineleben ermöglichte es ihr, die Ess-Brech-Sucht voll auszuleben. Der Ausstieg kam plötzlich: „Ich habe mir gesagt, du brauchst das nicht mehr.“

Trotz, oder gerade wegen ihrer Erfahrung mit so vielen Wegen, die aus der Bulimie führen sollen, weiß Fischer: „Der Schlüssel dazu liegt zu 80 Prozent in einem selbst.“ Angst davor, dass sie rückfällig werden könnte, hat sie „generell schon“. Aber im Moment überwiegt das Gefühl, wie „superbefreiend“ es ist, ohne die Bulimie zu leben: „Auf einmal habe ich so viel Zeit, so viel mehr Lebensqualität.“