Ein zugewachsenes Grundstück in Korntal wird zum Politikum – und zum Prüfstein für die direkte Demokratie. Foto: factum/Granville

Ende 2015 hat die Landesregierung die Hürden für Bürgerentscheide gesenkt. Deren Zahl in den Gemeinden steigt. Direkte Demokratie heißt das Rezept. Nicht selten mit Nebenwirkungen.

Korntal-Münchingen - Völlig unscheinbar liegt es da, das Grundstück in Korntal. Das Gras bauchhoch, rings herum Bäume und Büsche. 700 Quadratmeter Brachland, auf drei Seiten umgeben vom angrenzenden Friedhof. Und genau das ist für manche ein Problem. Eine Initiative hält diesen Platz direkt an den Gräbern für ungeeignet für den Bau einer neuen Flüchtlingsunterkunft. Gut 1100 Menschen haben ein Bürgerbegehren unterschrieben. Die Verwaltung hat es als zulässig eingestuft, der Gemeinderat in dieser Woche beschlossen, dass es am 16. Oktober einen Bürgerentscheid geben soll. Damit könnte die ursprüngliche Entscheidung der Volksvertreter für den Standort kippen. Das Stück Brachland ist in der kleinen Stadt Korntal-Münchingen im Landkreis Ludwigsburg zum Politikum geworden.

Direkte Demokratie nennt sich das. Die Landesregierung hat die Hürden dafür auf kommunaler Ebene in Baden-Württemberg vor wenigen Monaten gesenkt. Das Prinzip, die Bürger zu einzelnen Themen abstimmen zu lassen, gilt so manchem als Patentrezept für ein funktionierendes Gemeinwesen und gegen Politikverdrossenheit. Frei nach dem Motto: Man stellt eine Frage, die Wahlberechtigten entscheiden, alles in Butter. Doch ganz so einfach ist das in der Praxis nicht. Denn die Medaille hat hin und wieder eine hässliche Kehrseite. Sie heißt: Zwietracht im Ort. Je kleiner der ist, je heikler dazu das Thema, desto größer die Gefahr einer Spaltung der Bürgerschaft.

Nazi-Vorwürfe im Laden

In Korntal hat ein Familienvater gemeinsam mit anderen das Bürgerbegehren gegen den Standort der Flüchtlingsunterkunft ins Leben gerufen. „Seither werden die Unterstützer von verschiedenen Seiten persönlich beschimpft. Ein Händler, der die Flugblätter ausgelegt hat, wurde angebrüllt, er sei ein Nazi. Der Riss geht zum Teil durch Familien“, berichtet er. Der Mann erzählt, er stamme aus einem christlich-sozialdemokratischen Elternhaus. Der teils offene Versuch, ihn in die rechte Ecke zu stellen, entsetzt ihn: „Es bereitet mir große Sorge, dass Leute mit einer abweichenden Meinung in unserer Gesellschaft auf unterstem Niveau angegriffen werden.“ Er sei es leid, sich alle möglichen Unterstellungen anhören zu müssen, sagt er, und merkt nachdenklich an, dass er der direkten Demokratie ursprünglich recht skeptisch gegenübergestanden sei. Vom eingereichten Bürgerbegehren ist er trotzdem noch überzeugt – vor allem aufgrund der über 1100 Unterschriften aus dem ganzen Gebiet von Korntal.

Die Initiatoren weisen den Vorwurf der Fremdenfeindlichkeit weit von sich. „Die Hauptsorge vieler Unterzeichner ist nicht die Tatsache, dass Flüchtlinge kommen, sondern der Ort. Es wären nur ein paar Meter Abstand von den Gräbern auf dem Friedhof bis zur Unterkunft. Das ist viel zu dicht dran“, sagen sie. Das zeige auch das bestehende Baurecht, das bisher eine Bebauung wegen der Wahrung der Friedhofsruhe nicht zulasse. „Außerdem kommen die Leute aus Kriegsgebieten und sollen dann auf Gräber schauen. Man kann sie sicher besser unterbringen als dort“, sagt der Mann.

Im Ort sind die Meinungen geteilt. Bedenken bei der Standortwahl hatte einst auch der Gemeinderat – doch die Alternativen schienen noch weniger geeignet. „Wir hatten einen sehr umfangreichen Suchlauf“, sagt Bürgermeister Joachim Wolf. Man brauche ein freies, geeignetes städtisches Grundstück. Das gibt es direkt vor den Toren der Landeshauptstadt kaum. Er fürchtet, bei einem Erfolg des Entscheids könnte es notwendig werden, eine Turnhalle oder andere öffentliche Gebäude zu belegen.

Angst um den Ruf der Gemeinde

Größere Sorge bereitet dem Stadtoberhaupt aber die Stimmung unter den Einwohnern. „Das Konfliktpotenzial darf man nicht unterschätzen. Man hat schon beim Sammeln der Unterschriften gemerkt, dass auf beiden Seiten die Emotionen hochkochen.“ Er hofft darauf, dass es gelingt, „versachlichend einzuwirken und eine fundierte Entscheidung der Bürger zu bekommen“. Wenn schon Entscheid, dann bitte auf möglichst breiter Basis. Und noch etwas ist Wolf wichtig: „Wir haben hier keinerlei grundsätzliche Probleme mit Flüchtlingen, sondern an allen anderen Standorten ein sehr gutes Einvernehmen.“ 150 Asylbewerber leben in Korntal-Münchingen. Es ärgert den Bürgermeister, dass im Zuge der Debatte sämtliche Klischees seiner Stadt über die Maßen bedient werden, etwa die pietistische Tradition. Er fürchtet, der gute Ruf der Gemeinde könnte Schaden nehmen.

Da wirken die finanziellen Folgen fast schon nebensächlich. Mit Kosten von 25 000 Euro für den Bürgerentscheid rechnet man im Rathaus. Außerdem könnten vom Gewinner der Bau-Ausschreibung Schadenersatzansprüche kommen. Und noch ein anderer Punkt ist nicht abschließend geklärt: Eigentlich müssen Bürgerinitiativen, die einen Bürgerentscheid fordern, einen Finanzierungsvorschlag für das Verfahren mitliefern. Eine eher abstrakte Geschichte, die in Korntal-Münchingen auch nicht als erfüllt gilt. Dennoch hat die Verwaltung das Begehren als zulässig beurteilt. „Mit der Novellierung der Bestimmungen Ende 2015 wollte der Gesetzgeber mehr Bürgerbeteiligung ermöglichen. Also haben wir im Sinne der Bürger geprüft und uns auch bei der Kommunalaufsicht rückversichert“, sagt Wolfs persönliche Referentin Benita Röser.

Kretschmann voll des Lobes

Tatsächlich hat die damalige Grün-Rote Landesregierung die Änderung der Gemeindeordnung im vergangenen Jahr als großen Erfolg gefeiert. Seither liegen die Hürden für Bürgerentscheide auf kommunaler Ebene deutlich niedriger als zuvor. „Wir fördern die direkte Demokratie und damit das politische Interesse und Engagement der Bevölkerung insgesamt“, sagte Ministerpräsident Winfried Kretschmann damals.

Das zeigt Wirkung. Nach einer Auswertung des Vereins Mehr Demokratie steigt die Zahl der Bürgerbegehren und -entscheide in den Gemeinden im Land seither deutlich. Im ersten Halbjahr 2016 waren es fast schon so viele wie im gesamten vergangenen Jahr. Auch Flüchtlingsunterkünfte standen bereits mehrfach auf dem Programm. An diesem Sonntag etwa wird im oberschwäbischen Waldburg per Bürgerentscheid über einen Standort befunden.

Dem Verein Mehr Demokratie wäre es am liebsten, man würde bei Bürgerentscheiden das Quorum komplett abschaffen, damit die einfache Mehrheit genügt. Dennoch zeigt man sich beim Landesverband Baden-Württemberg zufrieden mit den Änderungen. „Es ist auf jeden Fall leichter geworden“, sagt Sprecher Daniel Davis. Besonders gut komme an, dass auch Themen geöffnet wurden, die früher tabu waren, etwa die Bauleitplanung. „Man sieht ja bereits, dass es einen deutlichen Trend nach oben gibt. Immer mehr Menschen möchten mitentscheiden.“ Das komme auch in den Verwaltungen an: „Man geht bei Großprojekten inzwischen eher auf die Bürger zu.“

Gemeinden sollen Bürger frühzeitig einbinden

Allerdings gibt es auch Beispiele, in denen Bürgerinitiativen ihr Begehren zurückgezogen haben, um den Frieden im Ort zu wahren. Angesichts solcher Probleme legt man im Staatsministerium Wert darauf, dass trotz der Lockerung Bürgerentscheide nicht das vorrangige Ziel seien. „Direkte Demokratie und Bürgerbeteiligung sind nicht identisch“, betont Sprecher Arne Braun. Idealvorstellung sei vielmehr, dass die Gemeinden die Bürger von Anfang an in Prozesse so gut einbeziehen, dass direkte Demokratie gar nicht nötig werde. Bürgerentscheide könnten tatsächlich ein Zeichen dafür sein, „dass es in einer Gemeinde brennt“. Allerdings seien sie meist nicht Auslöser dafür, sondern der Endpunkt. Staatsrätin Gisela Erler fasst das so zusammen: „Je besser die Gemeinden beteiligen, umso seltener werden wahrscheinlich Bürgerentscheide. Hier hat auch ein Lernprozess eingesetzt.“

Die Meinung zur direkten Demokratie beim Gemeindetag Baden-Württemberg hat sich allerdings nicht geändert. Dort war man vor der Lockerung Sturm gegen die Pläne gelaufen. Nicht nur wegen Streits unter den Bürgern. „Die Änderung war völlig unnötig. Das ist ein massiver Eingriff in die kommunale Selbstverwaltung“, sagt eine Sprecherin. Entscheidungen müssten von den Gemeinderäten getroffen werden, die das Wohl des gesamten Ortes im Auge haben müssen.

Dass es in Korntal-Münchingen jetzt zum Bürgerentscheid kommt, sehen die Initiatoren als Teilerfolg. „Das war für uns das letzte Mittel“, sagt einer. Er betont, man sei nach wie vor gesprächs- und kompromissbereit: „Uns wäre eine einvernehmliche Lösung lieber. Wenn die Stadt heute mit einer vernünftigen Alternative käme, wäre die Sache für uns vom Tisch.“ So weit wird es wohl nicht mehr kommen – mit allen Folgen für den Ort.