Ministerpräsident Kretschmann will Bürger mehr mitreden lassen Foto: dapd

Die Landesregierung öffnet den Staatsgerichtshof für Beschwerden einfacher Bürger.

Stuttgart - Ob in Festreden oder bei Einweihungen, ob bei Ehrungen oder vor Lobbygruppen: Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) und seine Kabinettsmitglieder werden nicht müde, für ihre „Politik des Gehörtwerdens“ zu werben. Die Botschaft ist stets: In Baden-Württemberg wird Bürgerbeteiligung künftig ganz groß geschrieben.

Nächsten Dienstag wird es konkret: Wenn das Kabinett erstmals nach der Osterpause zusammenkommt, wollen der Regierungschef und sein Justizminister Rainer Stickelberger (SPD) den Kollegen ihren Plan für die sogenannte Individualverfassungsbeschwerde vorlegen. Seit Wochen ist das Projekt hinter verschlossenen Türen ausgearbeitet worden. Nur wenige waren eingeweiht, es sollte ein Überraschungscoup werden. Auf der offiziellen Tagesordnung für die Kabinettssitzung taucht das Thema nicht auf. Und doch soll es aufgerufen werden, wie aus informierten Kreisen zu hören ist – nämlich unter dem Punkt Verschiedenes.

Auf den ersten Blick klingt der Begriff Individualverfassungsbeschwerde einigermaßen unhandlich und bürokratisch. Aber die Initiative hat es in sich: Bürger, die sich gegen Entscheidungen oder Gesetze des Staates wehren wollen, müssen bisher eine Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe einlegen. Doch das höchste deutsche Gericht ist völlig überlastet, jährlich laufen dort rund 6400 solche Beschwerden auf, die Richter in den roten Roben werben gerade bei der Politik dafür, dass sie öfters von den Beschwerdeführern Gebühren verlangen dürfen – als abschreckende Maßnahme gewissermaßen.

Bundesverfassungsgericht ist überlastet

„Karlsruhe ist ein unglaubliches Nadelöhr“, klagt Andreas Fischer, Rechtsanwalt aus Baden-Baden. Allein schon wegen Überlastung würde das Gericht dort viele Fälle gar nicht annehmen. Er begrüßt daher, dass nun auch Baden-Württemberg als elftes Bundesland Verfassungsbeschwerden im eigenen Bundesland ermöglichen will. Damit könnten sich Bürger künftig gegen Entscheidungen von Gerichten und Behörden wehren – sofern sie die Landesverfassung verletzt sehen. Mehr noch: Nach Informationen unserer Zeitung will Grün-Rot auch eine sogenannte Popularklage einführen, wie es sie im Nachbarland Bayern längst gibt. Dort kann jeder Bürger – auch wenn er persönlich nicht betroffen ist – ein Gesetz oder eine Vorschrift überprüfen lassen, welche von Kommunen, Kreisen oder dem Land erlassen wurde.

Beide Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung werden in Bayern vom Verfassungsgerichtshof bearbeitet. „Wir haben davon gehört, dass Baden-Württemberg nun Ähnliches plant“, sagte Dagmar Ruderisch, Generalsekretärin des Gerichts in München, am Donnerstag unserer Zeitung. Man habe es jährlich mit 120 bis 150 Individualverfassungsbeschwerden zu tun. Es sind allesamt Fälle, bei denen sich Bürger zuvor erfolglos durch sämtliche juristische Instanzen gekämpft haben und in der Verfassungsbeschwerde ihre letzte Chance sehen. Ein Beispiel von vielen: Ein Bürger wehrt sich gegen die Entscheidung einer Kommune, dass er seinen Carport nicht wie gewünscht bauen kann. „Wir haben es immer wieder mit Fällen zu tun, bei denen die Betroffenen das Urteil der Vorinstanzen nicht wahrhaben wollen“, sagt Ruderisch. Der Verfassungsgerichtshof sei aber keineswegs nur eine Anlaufstelle von notorischen Querulanten. Auch wenn nur zwei Prozent der Verfassungsbeschwerden am Ende erfolgreich seien, sorge allein die Existenz des Gerichts dafür, „dass die Vorinstanzen alles dafür tun, ordentlich zu arbeiten“. Dies bestätigt auch Rechtsanwalt Fischer. Theoretisch müssten die Richter in Baden-Württemberg zwar schon heute die Landesverfassung in ihren Entscheidungen berücksichtigen, sagt er. Aber die meisten täten das nicht. Nun hofft er auf Besserung.

Größere Erfolgsquote in Bayern

Deutlich größer ist die Erfolgsquote in Bayern bei den Popularklagen – also in jenen Fällen, bei denen Bürger sich gegen ein Gesetz wehren, egal ob sie davon betroffen sind oder nicht. Von den 40 bis 50 Fällen pro Jahr, so Ruderisch, würden elf Prozent positiv beschieden. „Wenn wir zu dem Ergebnis kommen, dass etwas verfassungswidrig ist, muss der Gesetzgeber nacharbeiten“, so Ruderisch. Wie jüngst in Nürnberg. Dort hatte die Stadt eine Satzung für Werbeanlagen verabschiedet, um damit die Flut von Werbetafeln einzudämmen. Ein Unternehmer wehrte sich per Popularklage – und bekam recht.

Für das neue Klagerecht muss der Staatsgerichtshof in Stuttgart personell aufgestockt werden. Von zwei zusätzlichen Richterstellen ist die Rede, zudem von zwei weiteren Mitarbeitern. Rund 250 000 Euro im Jahr soll dies kosten. Ähnlich wie in Bayern soll die Anrufung des Gerichts aber gebührenfrei sein. Nur in Fällen, die von vornherein als aussichtslos oder unbegründet erscheinen, erhebe man einen Gebühr von 1500 Euro, so Ruderisch. „Aber es gibt dennoch Bürger, die das zahlen, damit wir ihren Fall prüfen.“

Regierungsintern geprüft wurde auch, ob man die Landesverfassung ändern müsste, um ein solches Klagerecht zu schaffen. Dann hätte man die Zustimmung der Landtags-Opposition gebraucht. Das Ergebnis war aber, dass es ausreicht, mit den Stimmen von Grünen und SPD das Gesetz über den Staatsgerichtshof (StGHG) zu ändern. Die neue Klagemöglichkeit ist nicht unumstritten. Kritiker halten sie schlichtweg für verzichtbar. „Eine Rechtsschutzlücke besteht nicht“, erklärte der Petitionsausschuss des Stuttgarter Landtags im vergangenen Jahr. Die Bürger könnten jederzeit auch gegen Landesgesetze nach Karlsruhe ziehen. Zudem habe die Landesverfassung gar keinen eigenen Grundrechtekatalog, sondern verweise in Artikel 2 auf das Grundgesetz.

Die Petition, die auf diese Art zurückgewiesen wurde, stammt vom Baden-Badener Anwalt Fischer. „Ich kämpfe seit einiger Zeit für eine Individualverfassungsbeschwerde“, sagt er. Dies sei ein Stück Föderalismus, jedes Bundesland könne seine eigenen Grundrechte festlegen. „Warum muss alles zentralistisch von den Richtern in Karlsruhe erledigt werden?“, fragt er. „Unser angeblich demokratischer Rechtsstaat bietet dem Bürger zu wenig Möglichkeiten, seine Grundrechte einzuklagen.“ Deutschland müsse eine Grundrechte-Kultur entwickeln.