Aus dem Umfeld von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sollen die jüngsten Indiskretionen kommen, die das Verhältnis zu Großbritannien belasten. Foto: AP

Großbritannien und die EU kämpfen bereits vor den Brexit-Verhandlungen mit harten Bandagen. Doch beide müssen verbal abrüsten, kommentiert Markus Grabitz. Es steht für Europa zu viel auf dem Spiel.

Brüssel - Man kennt die Rituale von Tarifverhandlungen. Noch bevor sich die Parteien an einen Tisch setzen und erste Gespräche führen, geht es hoch her. Da werden die Forderungen an die andere Seite in die Höhe getrieben, da fällt auch schon einmal ein derbes Wort. Die beiden Lager stehen sich scheinbar unversöhnlich gegenüber. Doch Beobachter wissen: Die markigen Sprüche vor Beginn der eigentlichen Verhandlungen dürfen nicht so ernst genommen werden. Sie zielen eher auf die eigenen Reihen. Es geht darum, vor direkten Gesprächen den Zusammenhalt zu stärken.

So ähnlich stellt sich das Szenario zwischen Brüssel und London kurz vor Beginn der Brexit-Verhandlungen dar. Plötzlich ist von 100 Milliarden Euro die Rede, die Großbritannien für den Ausstieg bezahlen soll. Da spielt es keine Rolle, dass der Chefunterhändler der EU-Kommission, Michel Barnier, bisher nie einen Preis für den Austritt aus der EU genannt hat. London geht aber umgehend darauf ein und behauptet, diese Summe sei völlig unannehmbar. Die britische Premierministerin Theresa May brüstet sich in der britischen Presse schon einmal damit, sie könne eine „verdammt schwierige Frau“ sein. Als ob jemand daran zweifeln würde.

May kann mit Schimpftiraden immer punkten

Doch warum sagt sie das so laut? Der Grund liegt auf der Hand: Beim britischen Publikum kann sie mit Schimpftiraden gegen Europa immer punkten. Und im Vereinigten Königreich herrscht Wahlkampf. Mit dem Brüssel-Bashing will sie ihre Aussichten bei den Unterhauswahlen Anfang Juni verbessern. Sie scheut sich auch nicht, Verschwörungstheorien zu streuen: Sie behauptet, Brüssel drohe London vor den Brexit-Verhandlungen, um die Wahlen in ihrem Land zu beeinflussen. Brüssel ist aber nicht Moskau.

Zur Wahrheit gehört auch, dass die EU Verantwortung für die Eskalation der vergangenen Tage trägt. Vermutlich hat das Umfeld von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker die Details über ein offensichtlich frostig verlaufenes Dinner in der Downing Street gestreut, die in Zeitungen zu lesen waren. May, Juncker und Barnier saßen an einem Tisch und hatten sich offensichtlich in der Sache nicht viel Erbauliches zu sagen. Die Indiskretionen stellen eine Provokation Londons dar. Sie sind nicht hilfreich, weil sie die sowieso schwierigen Verhandlungen belasten.

Die EU hat die bessere Ausgangsposition

Sie sind zudem unnötig, weil die EU ohnehin die bessere Ausgangslage vor den Verhandlungen hat. Die EU der 27 ist sich einig – dem Königreich droht der Zerfall, weil Nordiren und Schotten den Brexit nicht wollen. In der EU läuft es gerade wirtschaftlich gut – in Großbritannien häufen sich die schlechten Nachrichten. Ein namhaftes Geld- oder Finanzhaus nach dem anderen verlagert Personal aus der Londoner City auf den Kontinent. Die Immobilienpreise fallen auf der Insel, immer mehr Briten klagen angesichts des Kursverlustes beim Pfund über eine Vernichtung ihrer Vermögenswerte. Brüssel kann die Verhandlungen entspannter angehen als Großbritannien: Zwar werden beide Verhandlungspartner Federn lassen, und der Brexit ist ein Verlust. Aber der Kontinent gewinnt: Demnächst ziehen EU-Agenturen um, und Großbritannien muss viele Milliarden zahlen, um den Weg in eine wirtschaftlich ungewisse Zukunft anzutreten.

Es ist für Brüssel angezeigt, die Folklore sein zu lassen und sich darauf zu konzentrieren, die Verhandlungen gut vorzubereiten. Letztlich ist es auch hier wie bei Tarifverhandlungen. Die EU muss versuchen, ihre Interessen bei dem großen Poker zu wahren. An einem Scheitern der Gespräche kann auch Brüssel kein Interesse haben. Ein „wilder Brexit“, also ein Austritt ohne Vereinbarungen für den Handel und die Rechte von 4,5 Millionen EU-Bürgern, die in beiden Welten leben, würde den Kontinent ins Chaos stürzen.