Laut einem Polizisten hätten die Behörden den Anschlag am Breitscheidplatz verhindern können. (Archivbild) Foto: dpa/Bernd von Jutrczenka

Der Vorwurf wiegt schwer. Ein Polizist sagt, das BKA und das damals von de Maizière geleitete Bundesinnenministerium hätten konkrete Hinweise auf die Gefährlichkeit des späteren Attentäters Amri bewusst kleingeredet. Ministerium und BKA weisen diese Darstellung zurück.

Berlin - Kriminalhauptkommissar M. hat aus Düsseldorf einen dicken Aktenordner mitgebracht. Der 59-Jährige Beamte des nordrhein-westfälischen Landeskriminalamtes (LKA) will für seine Zeugenaussage vor dem Untersuchungsausschuss zum Terroranschlag auf dem Breitscheidplatz gut vorbereitet sein. Denn er weiß, dass er hier im Bundestag ein kleines politisches Erdbeben auslösen wird.

Die Kritik, die er hier gleich vorbringen wird, richtet sich nicht nur gegen die Berliner Polizei. Die hat den späteren Weihnachtsmarkt-Attentäter Anis Amri 2016 weitgehend aus dem Blick verloren - obwohl ihm die Ermittler in NRW jederzeit einen Anschlag zutrauten. Der Mann im grau-glänzenden Anzug sagt, auch das Bundeskriminalamt (BKA) und das Bundesinnenministerium hätten damals indirekt dazu beigetragen, dass Amri, der dann am 19. Dezember in Berlin zwölf Menschen tötete, vom Radar verschwand.

BKA soll Ermittlungen zu Amri abgelehnt haben

Außerdem habe das BKA damals seinen Vorschlag abgelehnt, die Ermittlungen zu Amri, der sich zwischen NRW, Niedersachsen und Berlin hin und her bewegte, selbst zu übernehmen. Das Innenministerium sagt, diese Aufforderung an das BKA, den Fall zu übernehmen, habe es nie gegeben. Fest steht aber, die deutschen Sicherheitsbehörden hatten damals mit der Überwachung aller bekannten islamistischen „Gefährder“ sehr viel zu tun.

Lesen Sie hier aus unserem Plus-Angebot: „Im Fall Anis Amri mauert die Regierung“

Ruhig und detailliert berichtet der Zeuge aus NRW im Ausschuss von einer Unterredung beim Generalbundesanwalt in Karlsruhe am 23. Februar 2016. Thema sei gewesen, wie man mit Amri weiter umgehen solle. Der Tunesier wollte, wie die Polizei in NRW durch Überwachung und die Aussage ihres V-Mannes „Murat“ wusste, einen Anschlag verüben. Sprengstoff, Schusswaffen und einen genauen Plan hatte er aber wohl noch nicht. Vor Gesinnungsgenossen soll Amri behauptet haben, er könne aus Neapel Sturmgewehre besorgen.

Welche Weisung kam von „ganz oben“?

Der LKA-Beamte erzählt, ein Beamter des Bundeskriminalamtes (BKA) habe bei der Besprechung in Karlsruhe damals die Glaubwürdigkeit von „Murat“ in Zweifel gezogen. Warum der Beamte das tat, könne er sich bis heute nicht erklären. Denn dieser V-Mann sei zu diesem Zeitpunkt schon 15 Jahre im Einsatz gewesen. Diese Quelle habe viele Hinweise geliefert, die sich hinterher als richtig erwiesen hätten. Als die Polizei im November 2016 den mutmaßlichen „Statthalter“ der Terrormiliz Islamischer Staat (IS), Abu Walaa, festnimmt, muss „Murat“, der sich Zugang zu dessen Kreis verschafft hatte, abtauchen. Es gibt Morddrohungen von Salafisten gegen ihn. Er kommt in ein Zeugenschutzprogramm.

Lesen Sie hier: Seit Breitscheidplatz sieben Anschläge verhindert

Nach der „hitzigen Debatte“ in großer Runde habe er in Karlsruhe noch unter vier Augen mit dem BKA-Beamten gesprochen, berichtet Kriminalhauptkommissar M., der damals das Ermittlungsverfahren gegen die Abu-Walaa-Gruppe leitete. Dieser habe ihm erklärt, er habe eine Weisung von „ganz oben“ bekommen, das Problem mit dem V-Mann aus Nordrhein-Westfalen zu lösen. Denn der „mache zu viel Arbeit“. Er habe den BKA-Mann dann gefragt, wer denn mit „ganz oben“ gemeint sei. Daraufhin habe ihm der Beamte den Namen eines seiner Vorgesetzten beim BKA genannt und „soweit ich weiß, wurde auch der Innenminister bezeichnet“. Er sei sich sicher, dass sein Gesprächspartner das Innenministerium genannt habe, ob auch der Name des damaligen Innenministers Thomas de Maizière fiel, kann er jedoch nicht mit Sicherheit sagen.

Die Mitglieder des Untersuchungsausschusses sind für wenige Sekunden sprachlos. Später erklären einige von ihnen, sie wollten unbedingt demnächst den BKA-Beamten als Zeugen vernehmen. Doch was ist, wenn der das Gegenteil behauptet? Oder wenn er sagt, er könne sich an diese Unterredung unter vier Augen nicht erinnern. Nach Angaben des Bundesinnenministeriums hat er der Darstellung des LKA-Zeugen aus NRW jetzt intern vehement widersprochen.

Was passiert nach den schweren Vorwürfen?

Der Polizist aus Düsseldorf sagt, er sei von der Aussage des BKA-Beamten damals so „geschockt“ gewesen, dass er gleich im Anschluss eine handschriftliche Gesprächsnotiz angefertigt habe. Außerdem habe er kurz darauf zwei Staatsanwälten, die bei dem Gespräch in der großen Runde dabei waren, davon berichtet.

Martina Renner (Linke) sieht keinen Grund, die Aussage des LKA-Mitarbeiters anzuzweifeln. Er habe die Ereignisse von damals und seine letztlich erfolglosen Bemühungen „bereitwillig und glaubhaft“ geschildert, sagt sie. Einen ganz anderen Eindruck hinterlässt Kriminalhauptkommissar C. aus Berlin, den die Abgeordneten in der Nacht als weiteren Zeugen befragen. Der frühere Leiter eines Kommissariats der Staatsschutz-Abteilung hat viele Erinnerungslücken. Auf die Frage, weshalb seine Behörde die Überwachung von Amri im Sommer 2016 zurückgefahren hat, antwortet er: „Er erschien dann irgendwann nicht mehr so gefährlich.“ Auch seien Observationskräfte eine knappe Ressource gewesen.

Der Ausschuss müsse möglichst schnell den BKA-Beamten vernehmen, der „die Ansage der BKA-Spitze und des Bundesinnenministeriums weitergegeben hat, auf die im Umfeld von Amri eingesetzte V-Person umgehend zu verzichten“, fordert die Grünen-Obfrau Irene Mihalic. Aus dem Bundesinnenministerium heißt es, das sei auch im Interesse des Beamten. Die Aussage des Berliner Kommissariatsleiter kommentiert Mihalic mit den Worten: „Unkenntnis und Inkompetenz scheinen beim LKA Berlin zumindest im Bereich Islamismus die Voraussetzung für berufliches Weiterkommen gewesen zu sein.“