Will die Bürger öfter direkt mitentscheiden lassen: Tübingens OB Boris Palmer Foto: dpa

Nach jahrelanger Vorarbeit lockert der Landtag die Regeln für die direkte Demokratie. Dem Tübinger OB Palmer sind sie immer noch zu streng, er würde Bürgern gern noch mehr Rechte geben.

Herr Palmer, der Landtag ist gerade dabei, die Mitwirkungsrechte der Bürger in Gemeinden zu stärken. Einige Ihrer Kollegen, darunter Freiburgs OB Dieter Salomon, halten davon nicht viel. Und Sie?
Die Kritik hat mich überrascht, denn die Kollegen zeigen erstaunlich wenig Selbstbewusstsein. In keinem anderen Bundesland haben Bürger- und Oberbürgermeister eine stärkere Stellung als in Baden-Württemberg. Das hat sich ja auch bewährt. Dazu gehört aber ein Gegengewicht, nämlich eine selbstbewusste Bürgerschaft. Die will heutzutage mehr mitbestimmen als früher, und das soll jetzt möglich werden. Das schmälert die Chance auf eine erfolgreiche Kommunalpolitik überhaupt nicht.
Aber wie ist es mit dem Gemeinderat? Dessen Mitglieder müssen doch Kompetenzen abgeben, wenn die Bürger mitreden.
Sie müssen einige Kompetenzen teilen, nicht abgeben. Das halte ich für richtig, denn die Staatsgewalt geht vom Volk aus, nicht vom Gemeinderat. Nach dem Scheitern der Weimarer Republik hat man Sicherungen gegen populistischen Missbrauch der direkten Demokratie eingebaut, doch mittlerweile sind wir eine reife und erwachsene Demokratie. Deshalb sind diese Ängste nicht mehr begründet. Wir können unserer Bevölkerung zutrauen, dass sie demokratische Rechte verantwortlich nutzt.
Gibt es nicht jetzt schon Probleme, geeignete Kandidaten für die Gemeinderäte zu finden? Die Attraktivität dieser Ehrenämter leidet doch darunter.
Ja, dieses Problem gibt’s. Aber das liegt an dem Zeitaufwand und der geringen Anerkennung der Gesellschaft für dieses Ehrenamt, nicht daran, dass man als Gemeinderat im Schnitt alle 20 Jahre damit rechnen muss, dass ein Bürgerentscheid eine Sache abschließend regelt. Ich bin jetzt bald zehn Jahre OB und hatte noch nie einen Bürgerentscheid in meiner Stadt. Ehrlich gesagt: Ich finde das viel zu wenig.
Daraus kann man aber auch schließen: Wer ordentlich regiert und die Bürger frühzeitig einbindet, braucht keine Bürgerentscheide.
Bürgerbeteiligung braucht man trotzdem. Man muss ja erst einmal herausfinden, wie die Interessen der Leute sind, welche Ideen sie haben. Aber Sie haben recht: Bürgerentscheide braucht man erst dann, wenn eine Sache eine Gemeinde oder Stadtgesellschaft so bewegt, dass man das Volk selbst dazu befragen sollte. Wenn eine von hundert Entscheidungen ans Volk zurückdelegiert wird, dann stärkt das die Demokratie. Und es stärkt auch die Gemeinderäte, weil man ihnen mehr vertrauen kann. Der Bürger weiß: Wenn nötig, kann er die Entscheidung selbstbewusst wieder zurückholen.
Die Frage ist, wen solche Themen bewegen. Ist das nicht immer nur eine lokale Wortelite, die ihre Einzelinteressen durchsetzen will?
Ein Kollege von mir hat einmal von Beteiligungsaristokratie gesprochen. Die gibt es, das sind gebildete Menschen, die Positionen formulieren und dann in Versammlungen durchsetzen. Aber das betrifft doch nur den informellen Prozess der Meinungsbildung, nicht die Abstimmung an sich. Was jetzt in der Gemeindeordnung kommt, sind formale Beteiligungsmöglichkeiten, niedrigere Hürden, um zu Bürgerentscheiden zu kommen. Da greift das Argument der Wortelite nicht, denn in der Wahlkabine gilt: Jeder hat eine Stimme.
Wie sehen Sie das Vorhaben, dass künftig auch Einzelgemeinderäte Fraktionsrechte erhalten können? Erschwert das nicht die Entscheidungsfindung?
Das kommt immer darauf an, auf welcher Seite man sitzt. Für die Stadtverwaltung bedeuten alle zusätzlichen Rechte für Gemeinderäte natürlich zusätzliche Arbeit. Ich als OB springe da auch nicht vor Freude auf den Tisch. Wenn man sich aber mal in die andere Seite hineinversetzt und sich vor Augen führt, wie viel Arbeit sich gewählte Vertreterinnen und Vertreter machen, dann wird man einsehen, dass sie ihre Gedanken und Ideen einbringen wollen. Schauen Sie, die bisherige Regelung, dass der OB allein entscheidet, was auf die Tagesordnung kommt, bedeutet doch, dass er ein Thema bequem ein Jahr aussitzen kann, wenn er das möchte. Das ist für Gemeinderäte nicht gerade ermutigend.
Nun sollen die Bürger auch noch bei der sogenannten Bauleitplanung mitwirken dürfen. Die CDU befürchtet, dass dies den dringend nötigen Wohnungsbau behindert. Glauben Sie das auch?
Bauleitplanverfahren sind ohnehin langwierig. Die Zahl der Fälle, in denen Verzögerungen durch Bürgerentscheide eintreten, wird sich im einstelligen Prozentbereich bewegen. Grundsätzlich ist es doch so: In den Kommunen gehören Bauthemen zu den wichtigsten. Gemeinden bestehen ja schließlich auch aus Gebäuden. So ein zentrales Thema von der Bürgerbeteiligung auszuschließen, halte ich für problematisch. Deswegen finde ich den Kompromiss, dass der Bürger ganz am Anfang des Verfahrens die Möglichkeit bekommen soll, etwas direkt zu entscheiden, danach aber nicht mehr, genau richtig.
Die Reform entspricht also voll Ihren Erwartungen?
Leider nein. Ich hätte gerne noch mehr direkte Beteiligungsrechte gehabt. Steuer- und Gebührenfragen bleiben nämlich weiterhin ausgeschlossen. Deshalb ist es mir zum Beispiel nicht möglich, in Tübingen einen Bürgerentscheid über einen umlagefinanzierten Nahverkehr abzuhalten. Das wäre aber notwendig, denn ein so großer Schritt lässt sich nur durch die Bürgerschaft selbst legitimieren. Mir leuchtet zwar das Gegenargument ein, dass man einen Gemeindehaushalt ruinieren kann, wenn jede Einzelgruppe ihr Anliegen durchsetzt. Ich finde aber, dass man dem Gemeinderat die Erlaubnis geben sollte, eine Haushaltsangelegenheit der Bevölkerung zur Entscheidung vorzulegen. Das vermisse ich. Ich finde es aber einen großen Fortschritt, dass Bürgerbegehren künftig nicht mehr ausgehebelt werden dürfen. Wir haben vor Jahren in Stuttgart gesehen, was passieren kann mitten in der Phase der Unterschriftenübergabe: Der damalige OB Wolfgang Schuster hat einen Vertrag über Stuttgart 21 unterschrieben, der dann vor Gericht dazu gedient hat, das Bürgerbegehren nachträglich für unzulässig zu erklären. Formal war das korrekt, politisch aber nicht.
Wie kann man das ausschließen?
Die neue Gemeindeordnung entfaltet eine Sperrwirkung. Sobald die Unterschriften gesammelt und übergeben sind, darf die Gemeinde nichts mehr tun, um das Erreichen des Ziels eines Bürgerbegehrens zu verhindern.
Dass über Stuttgart 21 kein Bürgerentscheid stattfand, furchst Sie noch immer?
In der Tat. Denn damit hätte man die meisten gesellschaftlichen Auseinandersetzungen frühzeitig abfangen können. Schon lange vor der Volksabstimmung.
-