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Boris Palmer kämpft für Kombi-Bahnhof - Will damit "nicht S21 auf Zeitschiene aushebeln".

Tübingen - Der Vorschlag des Schlichters Heiner Geißler, statt Stuttgart21 einen Kombi-Bahnhof zu bauen, ist in der Politik und unter den Projektbeteiligten aussichtslos. Der Grünen-Politiker Boris Palmer kämpft aber weiter darum - und warnt davor, die Idee nur taktisch zum Aushebeln von S21 einzusetzen.

Herr Palmer, kommen Sie manchmal noch ins Stuttgarter Rathaus, um mit Ihrem Amtskollegen Wolfgang Schuster in trauter Zweisamkeit Kaffee zu trinken und über Gott und die Welt zu plaudern?

Das war anregend, ist aber lange her. Wir sind uns seit Jahren nicht mehr in dieser Form begegnet. Ich bin deswegen nicht traurig, und ich glaube, Herr Schuster auch nicht.

Stattdessen traten Sie nach der S-21-Schlichtung im Rathaus auf, um nochmals ungestört mit dem Stresstest abzurechnen. Das könnte man als unfreundlichen Akt verstehen.

Das war aber nicht so gemeint. Als ich zusagte, bei der Veranstaltung als Gast aufzutreten, wusste ich nicht, dass sie im Rathaus stattfinden würde. Außerdem habe ich kein böses Wort in Richtung OB Schuster gesagt.

An Ihrer harschen Kritik am Stresstest halten Sie aber fest.

Ja, aber ich zitiere dabei nur, was SMA festgestellt hat. Deren Gutachten ist ein Rätsel: Einerseits nennt es zahlreiche schwerwiegende Mängel bei Stuttgart 21, andererseits fließen diese Kritikpunkte in keiner Form in die Gesamtbewertung ein. Das ist wie ein Diktat, bei dem 100 Fehler angestrichen werden, aber nur zehn in die Note eingehen. So entstand in der Öffentlichkeit der falsche Eindruck, die Bahn habe den Stresstest bestanden. Und da kommt die Kombilösung ins Spiel, die der Schlichter Heiner Geißler ja nicht allein entwickelt hat, sondern gemeinsam mit dem Chef von SMA.

Was ist dagegen einzuwenden?

In der Fachwelt ist doch allen klar, wie sehr sich die Gutachter verbiegen mussten, um der Bahn die erhoffte Freifahrkarte bei S 21 zu verschaffen. Hier zeigt sich die hohe Abhängigkeit der SMA von ihrem großen Auftraggeber, der Deutschen Bahn AG. Die Kombilösung ist eine Art Alibi. Die Firma rettet ihren Ruf, indem sie einen Vorschlag macht, den ihr Chef als dreimal besser als S21 bezeichnet. Damit erklärt er S21 ja zu einem bahntechnischen Wahnwitz.

Ist die Kombilösung mit einem oberirdischen Kopf- und einem Tiefbahnhof eine Lösung?

Geißlers Vorschlag ist der klassische Kompromiss: Niemand bekommt alles, aber alle bekommen vieles. Die Befürworter von S 21 könnten sich über die Expressanbindung an den Flughafen, den Durchgangsbahnhof und die ICE-Neubaustrecke nach Ulm freuen, die Gegner von S 21 hätten zumindest erreicht, dass der heutige Bonatz-Bau als Bahnhof erhalten bliebe und beste Verbindungen in die Region herstellt. Geißlers Vorschlag ist wirklich gut, und alle Seiten täten gut daran, die Kombilösung ernsthaft und ehrlich vertieft zu prüfen.

Sie reiten ein totes Pferd. Die SPD hat die Kombilösung klar abgelehnt. Die Landesregierung weist die Entscheidung den Projektpartnern zu. Die Bahn, die Stadt Stuttgart und die Region lehnen den Kompromiss aber kategorisch ab.

Sie haben recht, das sieht nicht gut aus. Andererseits wird der Druck auf eine Lösung des Konflikts eher noch ansteigen - und dafür hat bisher niemand außer Geißler eine Idee entwickelt.

"Der Kombi-Bahnhof funktioniert, S21 nicht"

Die Eingriffe in den Park und in den sensiblen Untergrund mit Grund- und Mineralwasser wären auch bei der Kombilösung unumgänglich. Auch der Erhalt des Südflügels erscheint fraglich. Wieso sollen engagierte Gegner von S 21 dem Kompromiss zustimmen?

Ein Bahnhof ist in erster Linie ein Bahnhof. Und da bietet der Kombi-Bahnhof zwei unschlagbare Vorzüge: Er funktioniert, und er hat große Reserven für den Bahnverkehr der Zukunft. S 21 hingegen funktioniert nicht; das ist ein Flaschenhals, der am selbst produzierten Fahrplan- und Verspätungschaos kollabieren wird. Die Eingriffe im Park und ins Grundwasser wären beim Kombi-Bahnhof zumindest weniger heftig, weil der unterirdische Bahnhofsteil deutlich kleiner ausfiele und viele Tunnel gar nicht gebaut würden. Und den Südflügel könnte man wohl schon erhalten. Aber wie gesagt, es ist ein Kompromiss. Würde man den heutigen Kopfbahnhof modernisieren, gäbe es überhaupt keine Eingriffe in Park und Grundwasser.

Kritiker der Kombilösung argwöhnen, dass es den Grünen in Wahrheit nur darum gehe, Zeit zu schinden, bis sich das Projekt eines fernen Tages von allein erledigt.

Stuttgart21 auf der Zeitschiene auszuhebeln und am Ende mit leeren Händen dazustehen wäre unehrlich und würde uns Grüne als Verhinderer brandmarken. Dem würde ich entschieden widersprechen. Ich gebe aber etwas anderes zu bedenken: Die Lösung der vielen offenen Fragen in der S-21-Planung, etwa im Flughafenbereich, dauert genauso lange wie eine solide Planung der Kombilösung. Man würde also keine Zeit verlieren.

Bahn, Bund, Stadt Stuttgart und Region lehnen sie auch deshalb ab, weil sie keine Finanzierungsmöglichkeit sehen.

Der Bund gibt einen Pauschalbeitrag zur Finanzierung; er hat sich aber nie auf S 21 fixiert. Der Bund könnte also auch die Kombilösung mitfinanzieren. Die Finanzierungsbeiträge von Stadt und Region würden gar nicht gebraucht, weil das Projekt deutlich günstiger ist als S 21.

Die Bahn sagt, dass die Kombilösung mit 5,2 Milliarden Euro deutlich teurer wäre als S21 mit derzeit geschätzten 4,1 Milliarden.

Diese Argumentation beruht auf Täuschungsmanövern der Bahn, wie wir sie bereits in der Schlichtung erlebt haben. Die 1,3 Milliarden Euro zum Beispiel, welche die Bahn bei der Kombilösung für die Sanierung des Kopfbahnhofs ansetzt, fallen größtenteils zwischen den Jahren 2020 und 2055 an. Das darf man doch nicht der Kombilösung zuschlagen. Es ist auch albern zu behaupten, dass die 800 Millionen Euro, welche die Stadt Stuttgart für die Annullierung des Grundstücksgeschäfts von der Bahn erhalten würde, Kosten der Kombilösung sind. Ohne diese Rechentricks ist S 21 deutlich teurer als die Kombilösung.

Der trennende Gleisstrang zwischen Hauptbahnhof und Feuerbach bliebe beim Kombi-Bahnhof erhalten. Als OB in Tübingen müssten Sie doch verstehen, dass Ihr Stuttgarter Amtskollege alles daransetzt, diese trennende Gleiswüste zu beseitigen.

Das ist ein plausibles Argument, das ich verstehe. Ich habe aber starken Zweifel, ob dieses eine Ziel es wert ist, derart ins Risiko zu gehen mit den heiklen Tunnelbauten, den Gefahren für das Mineralwasser, den drohenden Mehrkosten auch für die Stadt, den Nachteilen beim Schienenverkehr. Auch für das soziale Gefüge der Stadt ist S 21 ein Risiko. Außerdem würde der verbleibende Gleisstrang der Kombilösung schmaler ausfallen als heute.

Wenn sich alles wirklich als so positiv erweisen würde, wären Sie dann bereit, die Kombilösung im Gegner-Lager durchzufechten?

Ich halte die Modernisierung des jetzigen Kopfbahnhofs nach wie vor für die beste, effizienteste Lösung. Ich bin aber kein Illusionist. Es geht schließlich auch darum, die Situation zu befrieden. Wenn der Kombi-Bahnhof dazu beiträgt, dass die Konfliktparteien aus ihren Schützengräben herausklettern, ist er für mich ein guter Kompromiss.

In den Stuttgarter OB-Wahlkampf 2012?

Die grün-rote Landesregierung hat sich für fünf Jahre ambitionierte Ziele gesetzt. Doch seit Monaten kreist alles Bemühen fast nur um S 21. Halten Sie das für gerechtfertigt?

Das macht mir auch Sorgen. Die Koalition kann in diesem Streit nicht erfolgreich arbeiten. Wir haben das befürchtet und deshalb schon am Anfang der Koalitionsgespräche einen Sachkompromiss in der Bahnhofsfrage angeboten. Leider ist die SPD darauf nicht eingegangen.

Wäre es nicht klug vom Grünen-Ministerpräsidenten, bei S 21 nachzugeben und die Energie für andere Politikfelder zu verwenden?

Es wäre für beide Seiten, also auch für die SPD, außerordentlich wünschenswert, den Konflikt um Stuttgart21 bald zu lösen. Wenn das mit dem Kompromiss Kombi-Bahnhof nicht gelingt, muss es eben mit der Volksabstimmung gelingen.

Das ist dann am 4. 12. der Schlusspunkt?

Beide Koalitionspartner halten an diesem vereinbarten Weg fest.

Sie reden dem Kompromiss das Wort, versuchen sich fast als Friedensengel. Bereiten Sie Ihre OB-Kandidatur in Stuttgart 2012 vor?

Das ist nett, dass Sie mir diesen Kranz des Versöhners flechten. Vor einem Jahr wurde ich für meinen Vorschlag einer Friedenskonferenz noch verhöhnt. Es gibt viele, die mir raten, nun den guten Verlierer zu geben. Leider kann ich das nicht, da werde ich fast lutherisch. Ich halte den Schaden eines unterirdischen Engpassbahnhofs für so gravierend, dass ich weiter warnen muss.

Wenn Sie doch nicht Versöhner sein können, werden Sie dann als Kämpfer gegen S21 in die OB-Wahl gehen?

Das verbietet sich für einen vernünftigen Menschen von selbst.

Versuchen Sie mal einen Ausblick: Wo werden wir bei Stuttgart 21 Anfang 2012 stehen?

Da müsste ich Hellseher sein. Mein Eindruck ist, dass viele Bürger den Konflikt leid sind und endlich eine Lösung haben wollen, so oder so. Es gibt in der Welt ja wirklich drängendere Probleme als den Bahnhof in Stuttgart.