Flug zum Wimbledon-Sieg 1985: Der 17 Jahre alte Boris Becker hechtet im Finale einem Ball hinterher und schreibt wenig später Sportgeschichte Foto: dpa

Verehrt, geliebt, belächelt: Am 7. Juli 1985 steigt Boris Becker als jüngster Wimbledon-Sieger in den Sport-Olymp auf, aus dem er sich nach seiner Tenniskarriere fast selbst verbannt hat.

London - So etwas hatten die Offenen Englischen Tennismeisterschaften noch nie erlebt. So etwas hatte die Sportwelt noch nie erlebt. Vor 30 Jahren triumphierte ein ungesetzter 17-Jähriger auf dem heiligen Rasen in Wimbledon. Als jüngster Spieler überhaupt und als erster Deutscher. Es war eine Sensation. Ein Urknall. Mit dem Finalsieg riss Boris Becker eine ganze Nation in den Strudel der Glückseligkeit. Jung, frech und unbekümmert setzte sich der Rotschopf den Henkelpokal auf den Kopf. Ein Bild für die Ewigkeit.

Heute sieht das Bild ein wenig anders aus. Boris Becker (47) fädelt sich jetzt in Wimbledon in die Box seines Schützlings Novak Djokovic. Und es sieht ein bisschen so aus, dass man ihm dabei helfen müsste. Künstliche Hüfte, stabilisiertes Sprunggelenk. Warum sollte das Alter ausgerechnet um ihn einen Bogen machen?

Dennoch ist Becker zurück auf der großen Tennisbühne. Als Trainer der Nummer eins der Welt, Novak Djokovic. Es war eine glückliche Fügung, dass der Serbe Becker vor anderthalb Jahren in sein Team holte. Djokovic wollte den Roten Baron unbedingt: „Vor allem für meine mentale Einstellung.“ Denn wenn einer weiß, wie man mit brenzligen, fast ausweglosen Situationen auf dem Tennisplatz umgehen kann, dann Becker. Vor einem Jahr führte er Djokovic so zum Wimbledon-Sieg und zurück an die Spitze der Weltrangliste – just an dem Ort, an dem Beckers eigene Karriere so richtig begann.

Es war der 7. Juli 1985. Es war ein sonniger Tag in London und einer, der sich ins Gedächtnis der Deutschen einbrannte. Fast jeder weiß noch, wo und wie er Beckers Triumphzug gesehen hat. Wenn der WM-Titel der Herberger-Elf am 4. Juli 1954 in Bern zur Geburtsstunde der Bundesrepublik verklärt wurde, dann war das 6:3, 6:7, 7:6, 6:4 im Finale gegen den Südafrikaner Kevin Curren so etwas wie die Geburt eines neuen Sport-Heiligen. Dazu passt auch, dass der ehemalige Ministrant wenige Tage später bei Papst Johannes Paul II. eine Audienz hatte.

Deutschland lag jedenfalls im Becker-Fieber. Auch weil dieser sommersprossige Heranwachsende wie ein Held vor den Toren Londons kämpfte. Ein Held, mit dem man zwei Wochen gelitten hatte, um am Ende die Becker-Faust auf dem Sofa zu ballen. Um 17.26 Uhr war’s, als Bum-Bum-Becker den Ball hochwarf, über das Netz donnerte und Curren kein Return mehr gelang.

„Die Leute“, sagt Boris Becker heute, „haben mich danach angestarrt wie ein Wunder, wie einen Menschen von einem anderen Stern.“ Vor allem aber haben sie ihn geliebt, diesen Spätpubertierenden. Für seine „Mondlandung“, wie er den ersten seiner drei Grand-Slam-Titel in Wimbledon nannte. Und für sein Charisma, seine Unbekümmertheit. Wochen zuvor hatten nur wenige den Unterschied zwischen Wimbledon und Wembley gekannt. Monate danach wusste jeder alles über den Sport mit der gelben Filzkugel, und natürlich über Boris. Seine Puma-Schläger ein Verkaufsrenner, seine weiß-roten Treter ein Kassenschlager, seine im TV übertragenen Spiele ein Straßenfeger. Die Menschen stürmten die Tennisclubs.

Wenigen anderen Sportlern haben sich die Deutschen derart hingegeben wie ihm. Auch weil er so anders war, nicht nur wegen seiner Erscheinung, sondern weil er zwei Gesichter hatte. Das eine war auf dem Platz zu sehen: Da erschreckte er das Establishment des Weißen Sports. „Das Gladiatorenhafte entspricht nicht unserem Charakter“, erklärte der Herzog von Kent, der Präsident des hochehrwürdigen All England Lawn Tennis and Croquet Club vor dem Finale, doch Becker war’s schnuppe. Vom puren Ehrgeiz getrieben drosch er beim Aufschlag drauf, holte ein Stück Fußball auf den Court, indem er am Netz den Becker-Hecht auspackte und seine Emotionen herausschrie. Keine Spur von vornehmer, englischer Zurückhaltung.

So ungestüm er auf dem Court war, so unbeholfen wirkte er außerhalb des Platzes. Da zeigte sich sein zweites Gesicht. Wenn er etwa Hunderte seiner „Ähms“ in die Mikrofone stotterte oder schüchtern seinen Blick während der Interviews gen Boden senkte. Damit war aber das Bobbele nahbar, authentisch, unverbraucht. Man wollte ihn am liebsten in den Arm nehmen.

Mittlerweile hat sich das Verhältnis von Boris Becker und den Deutschen gewandelt. Aus der überschäumenden Liebe zu ihrem Tennisstar ist Gleichgültigkeit geworden. Becker hat das registriert: „Ich bin nicht mehr der 17-jährigste Leimener, der Wimbledon gewonnen hat. Das zu begreifen fällt vielen schwer“, meint er und greift zu einem Superlativ, den es nicht gibt.

Die verloren gegangene Wertschätzung ist das Resultat seines Lebens abseits der geordneten Bahnen – nach seinen sechs Grand-Slam-Titeln, nach seinem Doppel-Olympiasieg 1992 an der Seite seines Rivalen Michael Stich, nach seinen 927 Profimatches, von denen er 713 gewann. Steueraffäre, Firmenpleite, Twitter-Kriege, TV-Show mit Fliegenklatschenhut, Pokerabende – irgendwie tat Becker alles, um seiner näherkommenden Bedeutungslosigkeit nach der Karriere zu entgehen. Nur auf die falsche Weise. Er scheiterte dabei, den Ruhm von früher aufleben zu lassen, weil er nach seinem Karriereende 1999 nie mehr ein Ass auf dem Terrain schlagen konnte, das er beherrschte: dem Tennisplatz. Mal abgesehen von einem lustlosen Intermezzo als Daviscup-Teamchef. Die unwürdigen Auftritte von Becker beschädigten jedoch den Sockel, auf dem sein Denkmal stand und das in einem lächerlichen TV-Duell des 1,90 Meter großen Rechtshänders mit barocker Figur gegen Comedian Oliver Pocher 2013 endgültig kippte.

„Ich halte mich für einen normalen Menschen, der in der Öffentlichkeit groß geworden ist, mit allen seinen Stärken und Schwächen. Aber ich erwarte Respekt“, moserte Becker kürzlich. In seinen Worten schwang der Wunsch nach Anerkennung mit. Nur: Mit Anerkennung verhält es sich wie mit der Liebe, beides kann nicht eingefordert werden. Respekt für seine Lebensleistung bekommt Becker eben nur noch im Ausland, wo seine Verfehlungen kaum Beachtung fanden. Distanz schafft manchmal Nähe.

Doch wie konnte es so weit kommen? Einer von Beckers Doppelfehler war sicher, dass er sich – wie so viele Helden – nicht schon zu Profizeiten auf die Zeit nach dem Sport konzentriert hat. Diesen Fehler haben viele gemacht. Gerd Müller, Lothar Matthäus oder Jan Ullrich. „Mein Leben“, gab Boris Becker einst zu, „gilt nur dem Tennis. Training, Match, Training, Match.“ Auf das Danach hat ihn keiner vorbereitet. Nicht sein erster Trainer Günther Bosch. Und auch nicht Ion Tiriac, der rumänische Impresario und Manager. Beide formten ihn zwar zu einem reichen Sporthelden (24 Millionen Euro Preisgeld), vernachlässigten aber seine Erdung.

Spätestens als Becker auch noch seinen familiären Halt verlor, begann seine öffentliche Selbst-Demontage. 1999 starb Vater Karl-Heinz mit 63 Jahren an Bauchfellkrebs. Er hatte den kleinen Boris mit drei zum Tennis gebracht. Zwei Jahre später folgte die Scheidung von Ehefrau Barbara, die er 1993 geheiratet hatte und mit der er zwei Söhne, Noah Gabriel (21) sowie Elias Balthasar (15), hat. Beschämender Höhepunkt des Ehe-Aus: die Anhörungen im Sorgerechtsstreit für die Kinder vor einem Gericht in Florida. Sie wurden live im TV übertragen. Ein Seelenstriptease, der peinlicher nicht hätte sein können. Die Welt schaute zu, als die Nummer mit der Besenkammer, dieses Tête-à-Tête in einem Londoner Hotel mit Angela Ermakowa, aus dem Tochter Anna (15) hervorging, aufgewärmt wurde.

Irgendwann in dieser Zeit hat Becker offenbar die Fähigkeit zur Selbstreflektion verloren. Oder sein Korrektiv. Jemanden, der ihn zur Vernunft gebracht hätte bei seiner Flucht in die Welt des Jetsets, in die er so gut passte wie schwarze Tennishemden nach Wimbledon. Seine späteren Beziehungen halfen ihm wenig. Tänzerin Caroline Rocher, Model Heydi Núñez Gómez, Sängerin Sabrina Setlur, die Tochter seines Ex-Managers, Sandy Meyer-Wölden oder seine spätere Frau Sharlely „Lilly“ Kerssenberg – allen war und ist der rote Teppich wichtiger. Keine Vip-Feiern oder Gala-Empfänge ließ der als Party-Muffel bekannte Becker mehr aus – und verdrängte sich mit öffentlich ausgetragenen Trennungen selbst aus dem Olymp der deutschen Sport-Legenden, in dem Max Schmeling, Franz Beckenbauer, Steffi Graf oder Rosi Mittermaier seit jeher thronen.

Boris Becker und die Deutschen – sie haben sich voneinander entfernt. Am 8. Juni hat die Tennisikone ein neues Buch herausgebracht. Nein, keine Biografie, den Fehler würde Becker nicht noch mal machen. Schon gar nicht nach seiner letzten, für die er 2013 nur Hohn und Spott erntete, weil er private Affären und Belanglosigkeiten breittrat. Nein, im aktuellen Buch geht es um „Boris Becker’s Wimbledon“. Um sein Wohnzimmer, in dessen Nähe er vor Jahren auch gezogen ist. „Wimbledon ist der einzige Ort auf der Welt“, wird Becker zitiert, „an dem mich keiner fragt: Was machen Sie denn hier? Denn hier gehöre ich hin – mehr noch als in meine Heimatstadt Leimen.“

Eine deutsche Fassung des Buches gibt es nicht. Wie das Jubiläum seines ersten Grand-Slam-Sieges zieht es – abgesehen von ein paar TV-Dokumentationen – an Deutschland nahezu unbemerkt vorbei. Dazu zählt auch Beckers jüngste Andeutung, dass er sich vorstellen könne, die britische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Ein Aufschrei in Deutschland blieb aus. Die Aussage wurde genauso unaufgeregt aufgenommen wie die vielen Netzfehler, die Becker in den sozialen Medien in schöner Regelmäßigkeit begeht.

Vor wenigen Wochen war der ehemalige Weltranglistenerste auf BBC zu sehen. Nicht als angesehener Experte, das hat er ja zwölf Jahre lang vor seinem Engagement bei Novak Djokovic gemacht, sondern als Gast in der „The One Show“. Dabei entstand ein Selfie mit der britischen Sängerin Leona Lewis. Eine bildhübsche Lady mit einer Stimme zum Dahinschmelzen. Das Foto mit Lewis postete er bei Twitter, es folgten unzählige Kommentare, die bewiesen, dass Becker hierzulande – trotz der Erfolge mit Djokovic – noch nicht rehabilitiert ist. Ein englischer User meinte: „Ein großartiges Interview auf BBC, Boris!“ Ein deutscher Kommentar lautete respektlos: „Ich kann seine Gedanken lesen: Wo ist hier die Besenkammer?“

Auch Kevin Curren meldete sich in diesen Tagen zu Wort. Genau Curren, der favorisierte Endspielgegner im Juli 1985 in Wimbledon. Natürlich wurde der Südafrikaner auch zu Boris Becker gefragt, bietet sich ja an, 30 Jahre danach. Und Curren, der passionierte Golfspieler aus Durban, sagte einen Satz, der bemerkenswerter nicht hätte sein können. Zumindest nicht für einen, der das wichtigste Finale seines Lebens gegen Becker verloren hatte: „Boris kann den Titel behalten, ich möchte nicht mit ihm tauschen.“

Was Becker von diesem Statement hält, weiß niemand. Es wäre ihm aber zu wünschen, dass sich 30 Jahre nach seinem legendären Sieg der Kreis wieder schließt. Denn mit Novak Djokovic ist er ja wieder dort gelandet, wo ihn die Menschen liebten und verehrten – auf dem Tennisplatz. Und wenn nicht alles täuscht, dann macht er in der Box von Djokovic auch die wenigsten Fehler.