Beschuldigt: Friedensstifter der Vereinten Nationen Foto: dpa

Als Friedensstifter genießen UN-Mitarbeiter weltweit hohes Ansehen. Doch ihre Position als Schutzbeauftragte nutzen viele der Mitarbeiter gnadenlos aus. Ein aktueller Untersuchungsbericht zeigt: Sexuelle Ausbeutung ist bei Friedensmissionen sogar üblich.

Stuttgart - Sie brauchen Wasser, Decken, Reis und Medizin. Sie kämpfen ums pure Überleben, um den Unterhalt der Familie, um einen besseren Lebensstandard. Und bezahlen dafür mit ihrem Körper: Nahrungsmittel gegen Prostitution, Hilfe gegen Sex. Vor allem Frauen und Minderjährige werden genötigt von denen, die eigentlich den Auftrag haben, sie zu schützen: Blauhelme der Vereinten Nationen (UN), Mitarbeiter auf Friedensmissionen in Krisengebieten.

Ein jüngst erschienener Bericht des internen Kontrollbüros der UN (OIOS) zeigt: Sexueller Missbrauch durch UN-Blauhelme ist ein großes Problem. In Haiti, Liberia, dem Kongo und der zentralafrikanischen Republik sollen UN-Mitarbeiter Hunderte von Frauen und Minderjährigen sexuell missbraucht und ausgebeutet haben. Der interne Untersuchungsbericht dokumentiert die Aussagen von 231 Frauen aus Haiti, die angeben, im Tausch gegen Geld, Nahrungsmittel oder Kleidung sexuelle Beziehungen mit UN-Mitarbeitern eingegangen zu sein. Sex gegen Waren – das Tauschgeschäft sei bei UN-Friedensmissionen „ziemlich üblich“, werde aber vertuscht, heißt es in dem Report.

Dabei verbietet die UN in ihrem Regelwerk für Mitarbeiter den Einsatzkräften inzwischen ausdrücklich den „Austausch von Geld, Anstellung, Waren oder Service gegen Sex“. Denn das Problem ist bekannt: Bereits vor mehr als zehn Jahren sorgte ein UN-Bericht über sexuelle Nötigung durch Blauhelme für Aufregung, 2003 versprach Kofi Annan „Null Toleranz“ in Bezug auf sexuelle Ausbeutung und Missbrauch.

Taten blieben mehr als ein Dreivierteljahr unbeachtet

Doch geändert hat sich anscheinend nichts. Auch heute kommen immer wieder neue Fälle ans Licht. Ein Skandal aus der Zentralafrikanischen Republik wirft derzeit einen Schatten auf die Friedenstruppen: Mindestens 16 Soldaten sollen zahlreiche Kinder sexuell missbraucht haben – gegen Essen oder Geld. Obwohl die Taten der UN bekannt waren, blieben sie mehr als ein Dreivierteljahr unbearbeitet – bis ein UN-Mitarbeiter an das truppenstellende Land Frankreich berichtete, statt weiter auf eine Reaktion der UN zu warten. Ein ganz ähnlicher Fall wurde Anfang Juli aus Burkina Faso bekannt, wieder im Zusammenhang mit einem Einsatz französischer Truppen. In diesem Falle wurden nun die zwei Soldaten von ihrem Einsatz suspendiert, Staatsanwaltschaften in Paris und der Hauptstadt von Burkina Faso kündigten Untersuchungen an – und die dauern an.

Warum aber kommt es zu solchen Fällen? Die Gründe seien oft sozial-struktureller Natur, sagt Kelly Neudorfer, Politikwissenschaftlerin an der Uni Tübingen. Sie spricht von „aggressiver Männlichkeit“ in der Militärkultur vieler truppenstellender Länder, und von „militarisierter Männlichkeit“: „Sind die Einsatzkräfte aus einer Gesellschaft, in der sich Männer den Frauen gegenüber generell überlegen fühlen, dann bringen sie dieses Machtgefühl auch mit in ihren Einsatz“, sagt Neudorfer. Vorwürfe richten sich gegen Blauhelme aus Ländern mit starken Truppenkontingenten wie Uruguay oder Südafrika ebenso wie gegen Mitarbeiter aus Frankreich: „Ein Machtgefühl kann auch entstehen, wenn die Blauhelme glauben, sie kämen aus überlegenen Kulturen.“ Solche Strukturen müssten sich ändern, damit es weniger Gewalt gegen Frauen und Kinder gebe. Nicht zuletzt entscheide auch die Ächtung solcher Vergehen im jeweiligen Einsatzland, so Neudorfer: „Gibt es in einem Land viele Sexualverbrechen, die aber nicht geahndet werden, wird das irgendwann immer normaler. Wer weiß, dass er sowieso nicht bestraft wird, ist weniger gehemmt.“

Rund 126 000 Blauhelme sind zurzeit auf 16 Friedensmissionen weltweit im Einsatz. Dazu gehören nicht nur Soldaten, sondern auch Polizisten und zivile Kräfte. 51 offiziell gemeldete Fälle von Missbrauch und sexueller Ausbeutung soll es einem Bericht von UN-Generalsekretär Ban Ki Moon zufolge im Jahr 2014 gegeben haben, oft mit mehreren Opfern – das sind etwas weniger als noch 2013.

Doch der nun erschienene interne Untersuchungsbericht zeigt: Die tatsächlichen Zahlen sind offenbar weit höher – viele Fälle dringen nie ans Tageslicht, oder ihre Ahndung verläuft sich irgendwo in den bürokratischen Strukturen der UN. Durchschnittlich 16 Monate benötigen die Ermittlungen dem internen Untersuchungsbericht zufolge. Für Tatenlosigkeit sorgt in vielen Fällen demnach auch die Ungewissheit darüber, ob es sich um einvernehmlichen Sex oder um Missbrauch handelt. Tatsache jedoch ist: Knapp ein Drittel der vermuteten sexuellen Übergriffe richtete sich gegen Minderjährige.

Und noch etwas verhindert die Aufklärung von Vergehen, kritisieren die Initiatoren von „Code Blue“, einer Kampagne der Organisation Aids-Free World: Aufgrund der Immunität der Mitarbeiter im Einsatz werden Beschuldigungen zunächst UN-intern behandelt – und nicht von der lokalen Justiz. „Diese Immunität ist wie ein Deckmantel, der es Einsatzkräften erlaubt, Gräueltaten ungehindert zu begehen – wohl wissend, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass sie je gestoppt oder bestraft werden“, so Paula Donovan, Co-Direktorin von Aids-Free World.