Thorsten Dirks, Präsident des IT-Branchenverbandes Bitkom, ruft die mittelständischen Unternehmen dazu auf, bei der Digitalisierung Tempo zu machen. Foto: Till Budde

Thorsten Dirks, Chef des mächtigen IT-Verbandes Bitkom und von Telefónica Deutschland, sieht für den Südwesten große Chancen. Die vernetzte Industrie könne die Wirtschaft stärken – aber nur, wenn sie bei der Umsetzung Tempo mache.

Stuttgart - Herr Dirks, wann haben Sie zuletzt im Funkloch gesteckt?
Das ist schon lange her. Sprachtelefonie funktioniert in Deutschland seit Jahren flächendeckend.
Beim mobilen Internet ist das anders. Wer auf der Alb oder im Schwarzwald unterwegs ist, hat manchmal das Gefühl, abgehängt zu sein.
Was mobiles Breitband angeht, gibt es in der Tat in den ländlichen Bereichen noch Nachholbedarf, aber alle Netzbetreiber investieren seit Jahren viel in die Mobilfunknetze und unternehmen alles, um täglich besser zu werden.
Bis 2018 soll es bundesweit ein schnelles Internet mit 50 Megabit pro Sekunde geben. Reicht die Geschwindigkeit überhaupt aus?
Das kann nur ein Zwischenziel sein, aber es ist wichtig, erst einmal zu liefern. Heute sind schon 85 Prozent der Haushalte im Festnetz mit 16 Megabit pro Sekunde versorgt. 70 Prozent haben jetzt bereits über 50 Megabit. Allerdings hat nur jeder vierte Haushalt im ländlichen Raum diese Geschwindigkeit. Aber da sind wir dran. Hier werden die 700-Megahertz-Frequenzen, die die Netzbetreiber im vergangenen Jahr ersteigert haben, noch mal eine deutliche Verbesserung bringen.
Und dann?
Dann müssen wir sehen, wie wir in die Gigabit-Gesellschaft kommen. Da geht es neben Geschwindigkeit auch um die Latenzzeiten – also um die Reaktionszeiten des Netzes, wie sie zum Beispiel für die vernetzte Fabrik oder selbstfahrende Fahrzeuge wichtig sind. Ab 2019/20 haben wir mit der neuen Mobilfunkgeneration 5G den dafür nötigen Standard. Er bietet Latenzzeiten von zehn Millisekunden. Auf diese Weise kann ein Auto zum Beispiel blitzschnell mit anderen Fahrzeugen kommunizieren und sie über ein Hindernis informieren.
Der EU-Kommissar für Digitale Wirtschaft, Günther Oettinger, hat davor gewarnt, Europa könnte bei 5G den Anschluss an Staaten wie Südkorea verlieren. Hat er recht?
Europa hat den Standard 2G und 3G gesetzt, die USA haben den aktuellen Standard 4G vorangetrieben. Jetzt müssen wir auf die Tube drücken. Deshalb brauchen wir in Europa eine Harmonisierung der Frequenzen. Es darf nicht passieren, dass ein selbstfahrendes Auto an der Landesgrenze stehen bleibt, nur weil die Frequenzen unterschiedlich sind.
Die Europäische Kommission will genau das mit dem digitalen Binnenmarkt tun und die Gesetzgebung der 28 EU-Staaten vereinheitlichen.
Und mit der kürzlich verabschiedeten EU-Datenschutzgrundverordnung haben wir hier einen wichtigen Schritt gemacht. Aber wir müssen schneller entscheiden. Es kann nicht sein, dass zum Beispiel die Diskussionen über die Vereinheitlichung des Datenschutzes bereits 2011 begannen, das Gesetz aber erst 2018 in Kraft tritt.
Die Automobil- und Maschinenbauer im Südwesten konkurrieren mit Google, Apple & Co., vor allem was die Geschäftsmodelle mit Kundendaten angeht. Wer hat derzeit die Nase vorn?
Was das Geschäft mit den Konsumenten angeht, ist Europa in Sachen Digitalisierung klar ins Hintertreffen geraten. Hier dominieren die großen Plattformen aus den USA und teils aus Asien. Europa muss die nächste Phase entschlossen angehen – denn jetzt geht es um die Digitalisierung unserer Leitindustrien und die Geschäftskunden. Mit der vernetzten Industrie – der Industrie 4.0 – haben wir besonders in Deutschland eine große Gelegenheit, unsere Wirtschaft wettbewerbsfähiger zu machen. Aber wir müssen dringend die Umsetzung beschleunigen, denn nur so können wir die Weltmarktführerschaft in der Industrie halten.
Welche Branchen sind weniger gut aufgestellt?
Ich würde nicht nach Branchen unterscheiden, sondern eher nach Unternehmensgrößen. Die mittelständischen Firmen kommen bislang oft noch nicht schnell genug voran.
Haben Sie ein Beispiel?
Wenn ein Mittelständler Lasersysteme für Blechschneidemaschinen liefert, dann könnte zum Beispiel die Fertigung in Echtzeit überwacht werden – und das 24 Stunden am Tag. Anhand von Datenanalysen ließe sich errechnen, ab wann ein Bauteil der Maschine ausfallen könnte, so dass man es instandsetzen kann, noch bevor es ausfällt. Das ist nur ein Beispiel für die Herausforderungen, denen der Mittelstand sich stellen muss. Die Unternehmer müssen verstehen, dass sie mit Datenanalysen bessere Produkte anbieten können.
Sind die Unternehmen den Herausforderungen gewachsen?
Vielen Unternehmen geht es hierzulande zum Glück gut – aber das kann manchmal den Blick verstellen für nötige Veränderungen. Die Chefs fahren zu oft auf Sicht. Um ein Unternehmen zu digitalisieren, müssen sie mehr Ressourcen einsetzen und langfristig planen.
Wenn die Digitalisierung ein 100-Meter-Lauf wäre, wie weit sind die Mittelständler den Weg der Digitalisierung bereits gegangen?
Sie haben im Schnitt rund 30 von 100 Metern bewältigt. Aber natürlich lässt sich das nicht pauschalisieren. Einige Firmen sind schon im Ziel angekommen, während andere gerade erst die Startblöcke montieren.
Die Uniabsolventen nehmen oft lieber einen sicheren Job bei Bosch oder Daimler an, statt selbst ein innovatives Unternehmen zu gründen. Geht es den Fachkräften im Südwesten zu gut, um innovativ zu sein?
Das ist sicherlich ein Hemmnis. Wir müssen mehr Anreize für Existenzgründungen schaffen. Der Bitkom diskutiert mit den Unternehmen, wie man mit Start-ups die Industrie besser digitalisieren kann. Dafür wollen wir Industrie, Mittelständler, Start-ups, Risikokapital und Forschung an einem Ort zusammenbringen – wir nennen das einen Hub.
Da wäre die Region Stuttgart oder die Region Karlsruhe prädestiniert: Hier gibt es all das – und vor allem das nötige Geld dazu.
Absolut. Das Silicon Valley kann hierfür ein Vorbild sein. Dort hat man große IT-Unternehmen wie HP oder Oracle mit Forschern, Wagniskapitalgebern und talentierten jungen Menschen zusammengebracht. So etwas ließe sich auch in der Region Stuttgart realisieren, zum Beispiel rund um den Automobil- oder Maschinenbau.
Ein Wort zum jüngsten Nachwuchs. Bei der Ausstattung mit Computern und Internet sind deutsche Schulen im internationalen Vergleich nur Mittelmaß. Was muss sich noch tun?
Die technische Ausstattung muss besser werden, auch die Lehrpläne und die Fortbildung der Lehrer müssen das Thema Digitalisierung stärker berücksichtigen. Digitales Lernen geht aber über die Schul- und Hochschulbildung hinaus. Nehmen Sie einen Elektriker, der seine Ausbildung vor 20 Jahren beendet hat und die Technik in einem Smart Home vernetzen soll. Sein damals erworbenes Wissen reicht heute bei weitem nicht mehr aus. Deshalb müssen wir die duale Ausbildung zu einer lebenslangen Ausbildung machen und viel mehr in die berufsbegleitende Weiterbildung investieren.
Machen die Unternehmen genügend?
Die Unternehmen müssen stärker in die Weiterbildung ihrer Mitarbeiter investieren. Wir brauchen neue Konzepte, wie sie Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) und der IG-Metall-Vorsitzende Jörg Hofmann gerade erarbeiten. Bei der digitalen Bildung ist Deutschland noch nicht weit – das hat die Politik begriffen. „Digitalisierung und Bildung“ wird deshalb Fokus des Nationalen IT-Gipfels in diesem Jahr sein. Es werden immer mehr neue Berufsbilder wie das des Datenanalysten entstehen. Gefragt sind auch Sicherheitsspezialisten.
Wie sieht es dann mit den Arbeitsplätzen in der Digitalbranche aus?
Sehr gut. Ende 2015 zählte sie gut eine Million Beschäftigte – damit ist sie der zweitgrößte industrielle Arbeitgeber, knapp hinter dem Maschinenbau und deutlich vor der Automobilbranche. In den vergangenen fünf Jahren wurden 136 000 neue Arbeitsplätze geschaffen. Und dieses Jahr kommen noch einmal mindestens 20 000 neue Jobs hinzu.