Siamesische Zwillinge wie diese zusammengewachsenen Kälber sind in etlichen zoologischen Sammlungen zu sehen. Foto: Universität Hohenheim

Wissenschaftler der Universität Hohenheim haben jetzt geklärt, wie sich die Organe in Embryonen entwickeln, die teilweise zusammengewachsen sind. Doch Fragen bleiben.

Stuttgart - Siamesische Zwillinge haben die Menschen seit jeher fasziniert – vor allem auch, weil ihr individuelles Schicksal so betroffen macht: Warum sind zwei Lebewesen teilweise miteinander verwachsen und damit zeitlebens fest aneinandergebunden? Das kommt bei allen Wirbeltieren vor, wie beispielsweise ein Blick in die Zoologische Sammlung der Universität Hohenheim zeigt: Dort werden gleich mehrere solcher Raritäten bei verschiedenen Tierarten aufbewahrt.

Auch heute noch kümmert sich Martin Blum, der Leiter des Zoologischen Instituts in Hohenheim, um siamesische Zwillinge – allerdings mit modernen molekularbiologischen Methoden. Dabei haben er und seine Kollegen nun eines der großes Rätsel der zusammengewachsenen Lebewesen gelöst, das Biologen und Mediziner seit Langem beschäftigt: Warum können die Organe in den beiden Zwillingshälften spiegelverkehrt sein? Auch der Stuttgarter Nobelpreisträger Hans Spemann hat sich vor beinahe hundert Jahren schon mit dieser Frage befasst – ohne Erfolg.

Bei den typischen siamesischen Zwillingen, die zwei selbstständige Köpfe haben, aber vom Brust-Bauch-Bereich abwärts zusammengewachsen sind, befindet sich bei dem Zwilling auf der linken Seite das Herz wie üblich links in der Brust. 50 Prozent der rechtsseitigen Zwillinge dagegen haben das Herz auf der rechten, also der „falschen“ Körperseite – die anderen 50 Prozent aber wie üblich auf der linken Seite. Die Organe im rechtsseitigen Zwilling sind also nach dem Zufallsprinzip auf die linke oder rechte Körperhälfte verteilt.

Ein Flüssigkeitsstrom steuert die Entwicklung

Die Erklärung findet sich in der Entstehung der Asymmetrie. In den ersten Tagen nach der Befruchtung ist der sich entwickelnde Embryo noch völlig symmetrisch gebaut – zwischen links und rechts sind noch keine Unterschiede festzustellen. Doch bald bilden sich oben auf dem Urdarm in einem bestimmten Bereich Zellen, die Fortsätze tragen. Diese sogenannten Zilien rotieren wie ein Propeller im Kreis und produzieren dabei einen von rechts nach links gerichteten Flüssigkeitsstrom, der außerhalb der Darmzellen verläuft.

Wie Martin Blum und seine Kollegen in der Fachzeitschrift „Current Biology“ jetzt schildern, hat dieser Ministrom Auswirkungen auf ein ganz bestimmtes Protein. Dieses blockiert drei Gene, die ihrerseits für die asymmetrische Entwicklung im Körper verantwortlich sind. Sobald der Flüssigkeitsstrom die „Proteinbremse“ gelöst hat, steuern die Asymmetrie-Gene die richtige Bildung und Verteilung von Herz, Magen, Darm, Leber und anderen Organen.

So jedenfalls verläuft die Entwicklung im linksseitigen Zwilling. „Der rechte Zwilling hat dagegen ein Problem, das er seinem linksseitige Geschwisterembryo zu verdanken hat“, berichtet Martin Blum. Zwar gebe es auch dort Zilien, die einen Flüssigkeitsstrom nach links erzeugen – aber trotzdem werde die Proteinbremse nicht gelöst. „Der Grund ist der linke Zwilling, der genau dort mit dem rechten zusammengewachsen ist, wo der Flüssigkeitsstrom die Proteinbremse eigentlich lösen müsste“, erklärt Blum und ergänzt: „Dies aber verhindert der linke Zwilling, indem er in der Region, in der die beiden Embryonen zusammengewachsen sind, zusätzliche Mengen des Proteininhibitors zur Verfügung stellt – und gegen die kommt dann der Flüssigkeitsstrom im rechten Zwilling nicht mehr an.“ Die Folge: Weil die Asymmetrie-Gene nicht aktiv sind, entwickeln sich die Organe nun nach dem Zufallsprinzip auf der linken oder rechten Körperhälfte.

Krank durch spiegelverkehrte Organe

Neben den Problemen mit dem zusammengewachsenen Körper haben rechtsseitige Zwillinge mit spiegelverkehrten Organen noch mit einer weiteren Schwierigkeit zu kämpfen: Die Störung der inneren Ordnung kann teilweise schwere Krankheiten zur Folge haben. Auch bei ganz normalen Menschen kann es vorkommen, dass das Herz rechts schlägt und auch die anderen Organe seitenverkehrt angeordnet sind. Vollständige Situsumkehr heißt das in der Medizin. Oft ist dies mit gravierenden Schädigungen verbunden, zu denen Fehlbildungen am Herzen oder Zysten in den Nieren gehören. Das kann im Laufe der Zeit zum Versagen dieses lebenswichtigen Organs führen.

Ihre grundlegenden Forschungen über die Ausbildung der Asymmetrie führen die Hohenheimer Zoologen an wenige Tage alten Kaulquappen des Krallenfrosches Xenopus durch. Für Martin Blum ist dieses bei Medizinern und Biologen beliebte Labortier „ein wichtiger Modellorganismus für die Untersuchung der Ursachen menschlicher Krankheiten“. Und manchmal lassen sich dabei auch unerwartet Fragen klären, für die es bisher keine Erklärung gab – wie die spiegelverkehrten Organbildung bei siamesischen Zwillingen.

Zusammengewachsene Zwillinge

Name Im Deutschen stand das ab dem Brustbereich miteinander verwachsene Zwillingspaar Chang und Eng Bunker Pate für die Bezeichnung siamesische Zwillinge. Die beiden, die 1811 in Siam – dem heutigen Thailand – geborenen Zwillinge wurden als Jahrmarktattraktion bekannt. Im Englisch heißt es „conjoined twins“, also miteinander verwachsene Zwillinge. Etwa 70 Prozent dieser Paare sind am Brustbereich zusammengewachsen, haben also zwei Köpfe. Darüber hinaus gibt es viele Möglichkeiten, wie solche Zwillinge miteinander verbunden sein können.

Häufigkeit Es gibt unterschiedliche Schätzungen, wie häufig siamesische Zwillinge entstehen – denkbar erscheint ein Fall in 50 000 Fällen. Zu bedenken ist, dass viele der missgebildeten Embryonenpaare nicht lebensfähig sind und bereits im Mutterleib resorbiert werden. Auch wird wohl bei vielen zusammengewachsenen Zwillingen die Schwangerschaft vor der Geburt künstlich beendet. Heute geht man davon aus, dass etwa ein siamesisches Zwillingspaar auf eine Million Lebendgeburten kommt.

Ursachen Fast immer entstehen siamesische Zwillinge aus eineiigen Zwillingen, die sich im Laufe der Embryonalentwicklung nicht vollständig voneinander trennen. Warum sie dies nicht tun, ist bisher allerdings ein Rätsel – genau wie die Tatsache, dass 70 Prozent der verwachsenen Zwillingspaare weiblich sind.