Ganztagsschulen sollen mehr Chancengleichheit im Bildungssystem herstellen, doch die Realität hinkt diesem Ziel hinterher. Foto: dpa, Oliver Wernert

In Baden-Württemberg kommt die Umwandlung von Halbtags- zu Ganztagsschulen nur schleppend voran. Der Lehrermangel ist ein Problem, aber auch die Finanzkraft der Kommunen und das Engagement der Schulen selber. Die Leidtragenden sind vor allem ärmere Gegenden.

Stuttgart - Es ist ein Widerspruch zu den ursprünglichen Zielen. Denn dort, wo die „Ganztagsschulen besonders gut funktionieren, sind die Kommunen reich“, sagt Michael Gomolzig, der stellvertretende Landesvorsitzende des Verbandes für Bildung und Erziehung (VBE) Baden-Württemberg. Dort, wo die Stadtkassen dank dicker Gewerbesteuern voll sind, gibt es aber auch gute Jobs – und damit auch tendenziell mehr besser verdienende Familien. Dabei waren Ganztagsschulen von der Landesregierung doch eigentlich als Vehikel für mehr Chancengleichheit im Bildungswesen gedacht. Durch sie sollten auch Kinder von weniger gut verdienenden Familien, in denen häufig beide Elternteile arbeiten müssen, ein vernünftiges Bildungsangebot bekommen. Was ist also schief gelaufen?

Seit drei Jahren sind Ganztagsschulen im Landesgesetz rechtlich verankert, bis zum Jahr 2023 sollen 70 Prozent aller Grundschulen Ganztagsschulen sein – für Gemeinschaftsschulen ist das Konzept selbstverständlich. Doch mit dem Beginn des neuen Schuljahrs werden auch wieder Mängel sichtbar. Einerseits wegen Baustellen, die den Unterricht stören. Andererseits wegen des Lehrermangels im Land und den dadurch drohenden Unterrichtsausfällen. Hunderte Stellen sind aktuell nicht besetzt. Eine genaue Erhebung gibt es bisher nicht, da die Bewerbungsverfahren noch nicht abgeschlossen sind.

Laut Michael Gomolzig vom VBE Baden-Württemberg ist es dort besonders schlimm, wo es ohnehin Probleme gibt: In ärmeren Gegenden, oft im ländlichen Raum. Da die Betreuung der Kinder abseits des Unterrichts in der Regel von den Kommunen finanziert wird, ist diese besser, je reicher die Kommune ist. „Nehmen Sie zum Beispiel Stuttgart: Den Leuten geht es hier gut“, behauptet Gomolzig. „Wenn wir jetzt noch in einen reichen Stadtbezirk wie Sillenbuch gehen, kommt die Idee der Ganztagsschule nicht so gut an.“ Viele wohlhabende Eltern würden ihren Kindern ohnehin eine gute Freizeitgestaltung ermöglichen – und fühlten sich durch den ganztägigen Unterricht in der Förderung ihrer Kinder bevormundet.

Ein Bildungsfinanzaufgleich könnte helfen

Die Ganztagsschulen seien also vor allem dort hervorragend ausgestattet, wo viele Kinder ohnehin an Nachmittagen ein spannendes und ihre Talente förderndes Programm haben. „Ballett, Musikunterricht oder Sport“, sagt Gomolzig. Und dort, wo die Mehrheit der Kinder nach der Schule auf der Straße spiele oder vor der Spielekonsole sitze, gehe es mit der Umwandlung von Halbtags- zu Ganztagsschulen oft nur schleppend voran.

Um dem gegenzusteuern, schlägt Michael Gomolzig eine Art Bildungsfinanzausgleich zwischen den Kommunen vor. „Nur, wenn die finanzielle Ausstattung der Schulen auf ähnlichem Niveau ist, können wir mit Ganztagsschulen Bildungsgerechtigkeit herstellen“, sagt er. Trotzdem stehe er aber voll und ganz hinter dem Konzept der Ganztagsschule.

Dass es einen Zusammenhang zwischen der Finanzkraft von Kommunen und der Qualität von Ganztagsschulen gibt, bestätigt auch das Kultusministerium. „Das hat sich auf dem Ganztagsgipfel gezeigt“, sagt ein Sprecher. Um die Kommunen an dieser Stelle zu entlasten, sei künftig ein stärkeres Engagement des Landes bei Zuschüssen von Betreuungsangeboten geplant. In den kommenden Monaten sollen unter Beteiligung des Finanzministeriums Gespräche über die Umsetzung geführt werden.

Die Schulen selbst schweigen

Kathrin Grix, die Vorsitzende des Gesamtelternbeirats (GEB) der Stuttgarter Schulen, sieht die Ganztagsschule im Grundsatz ebenfalls positiv. Die Landeshauptstadt sei auf einem guten Weg. Aber auch Grix sieht Probleme – etwa, was die Motivation mancher Lehrerkollegien angeht, den ganztägigen Schulunterricht richtig umzusetzen. „Das ist sehr stark von Schule zu Schule abhängig“, sagt Grix – und hängt in diesem Fall nicht von der Finanzlage der Kommunen ab.

„Das personelle Engagement an Schulen ist bei der Umsetzung enorm wichtig“, sagt Kathrin Grix. Etwa bei der angestrebten Rhythmisierung des Unterrichts – also dem Vorhaben, harten Schulstoff wie Mathematik oder Physik über den Tag hinweg mit kreativen Aktivitäten abzuwechseln. „Da kenne ich leider Fälle, wo Kollegien nicht aus ihrem alten Trott kommen“, sagt Grix. Darum fordert die Elternvertreterin Fortbildungen für Lehrer, die vom Land finanziert werden sollen: „Damit Ganztagsschulen und private Träger besser zusammenarbeiten.“ Gleichzeitig bietet sie an, zwischen den Beteiligten zu moderieren, damit das neue Schulkonzept besser umgesetzt werden kann.

Ein weiteres Problem ist die Vereinbarkeit von den Angeboten der freien Träger und den bereits bestehenden Kinderhorten. Sowohl Kathrin Grix als auch Michael Gomolzig sehen hier Nachholbedarf. „Die Jugendfarm im Elsental ist zum Beispiel eine tolle Einrichtung für Kinder“, sagt die Vorsitzende des Gesamtelternbeirats. „Aber womöglich bleiben ihr Kinder fern, weil sie auf einer Ganztagsschule sind und dort betreut werden.“ Hier müsse eine Lösung gefunden werden, damit Träger wie der private Verein der Jugendfarm, die bisher Aufgaben wie Nachmittagsbetreuung von Kindern übernommen haben, besser eingebunden werden.

Dass noch nicht alles glatt läuft mit dem Ganztagskonzept legt auch die Auskunftsbereitschaft der Schulen selbst nahe: Anfragen unserer Zeitung wurden von drei Ganztagsschulen nicht beantwortet. Die einzige telefonische Auskunft: „Fragen Sie bei diesem Thema doch bitte bei einer anderen Schule nach!“