Will beim Bildungsurlaub den Betrieben entgegenkommen: Finanzminister Nils Schmid Foto: Max Kovalenko

Für einen Beruf, den man nicht kennt, wird man sich auch nicht als Ausbildung entscheiden, sagt Nils Schmid. Der Finanz- und Wirtschaftsminister will Praktiker in die Schulen holen – vom Chef bis zum Betriebsrat. Berufsorientierung wird künftig großgeschrieben.

Für einen Beruf, den man nicht kennt, wird man sich auch nicht als Ausbildung entscheiden, sagt Nils Schmid. Der Finanz- und Wirtschaftsminister will Praktiker in die Schulen holen – vom Chef bis zum Betriebsrat. Berufsorientierung wird künftig großgeschrieben.
 
Herr Schmid, ist es richtig, wenn man ausgerechnet im Wirtschaftsland Baden-Württemberg Abitur machen kann, ohne vertiefte Wirtschaftskenntnisse zu haben?
Das Verständnis für wirtschaftliche Zusammenhänge und Berufsorientierung an den allgemeinbildenden Schulen – auch an Gymnasien – ist ausbaufähig. Es muss heutzutage zum Rüstzeug jedes Jugendlichen in Deutschland gehören zu wissen, wie die Wirtschaft funktioniert. Dazu gehören auch praktische Fragen wie: Was ist ein Girokonto, oder was bedeutet es, einen Arbeitsvertrag zu haben?
In einigen anderen Bundesländern gibt es bereits Wirtschaft als Schulfach. Wie groß ist denn die Dringlichkeit, in Baden-Württemberg hier voranzukommen?
Es ist dringlich. Deshalb wird das Schulfach Berufsorientierung und Wirtschaft ab Klasse fünf mit dem neuen Bildungsplan eingeführt. Was mir besonders wichtig ist: Neben unseren gut ausgebildeten Lehrerinnen und Lehrern müssen auch Praktiker in den Unterricht kommen. Nur so erhalten die Schüler auch Einblick in den Berufs- und in den Wirtschaftsalltag.
An welche Praktiker denken Sie?
Das kann ein Ausbildungsleiter sein, jemand von der Verbraucherzentrale oder ein Betriebsrat, der erzählt, wie es im Betrieb zugeht. Es kann der Geschäftsführer oder ein Abteilungsleiter aus einem Unternehmen sein. Die Einführung dieses neuen Schulfachs ist eine Riesenchance, Schule und Berufswelt enger zusammenzubringen – gerade auch über die Personen, die das vermitteln.
Wann soll das neue Schulfach starten?
Die Schulen haben jetzt schon Spielräume, so etwas einzuführen. Flächendeckend soll das neue Fach mit dem Schuljahr 2016/17 starten.
Wo soll der Schwerpunkt liegen bei dem neuen Schulfach?
Die wichtigste Aufgabe ist die Berufsorientierung und die Hinführung auf die Berufspraxis. Für einen Beruf, den man nicht kennt, wird man sich auch nicht als Ausbildung entscheiden. Die Schule soll die Augen für die Vielfalt beruflicher Ausbildung öffnen.
Droht nicht Gefahr, dass Schulen von Firmen zur Kundenbindung missbraucht werden?
Nein. Die jungen Leute werden doch heute bombardiert mit Konsumangeboten. Da habe ich wenig Sorge, dass sie zu etwas überredet werden, nur weil jemand von der Gewerkschaft oder von einem Handwerksbetrieb in den Unterricht kommt.
Haben Sie die Bereitschaft bei den Unternehmen abgefragt?
Wirtschaftsvertreter haben uns signalisiert, dass sie bereit sind, die entsprechenden Leute zu stellen. Ich bin überzeugt, dass wir viele Mitstreiter finden. Die Wirtschaft will nicht nur für sich werben, sie hat auch ein Interesse daran, junge Leute zu treffen, die Verständnis für wirtschaftliche Zusammenhänge haben.
Sie machen sich auch für die Weiterbildung von Arbeitnehmern stark. Sie wollen Unternehmen verpflichten, ihre Beschäftigten für Weiterbildung fünf Tage im Jahr freizustellen. Bleibt es dabei?
Wir wollen vor der Sommerpause innerhalb der Koalition die Eckpunkte klären und dann das Gesetzgebungsverfahren einleiten.
Wäre es schlimm, wenn Unternehmen auch etwas vom Bildungsurlaub haben, indem sie mitreden können, worin sich der Arbeitnehmer weiterbildet?
Die Unternehmen in Baden-Württemberg leisten unglaublich viel in der beruflichen Weiterbildung. Das geplante Bildungszeitgesetz soll die Beschäftigten in die Lage versetzen, zusätzliche Weiterbildungsangebote in Anspruch zu nehmen. Darüber sollten die Beschäftigten eigenverantwortlich entscheiden können.
Ein Unternehmen, das in der beruflichen Weiterbildung engagiert ist, müsste weniger als fünf Tage Bildungsurlaub gewähren?
Die fünf Tage sind gesetzt. In einem ,ganz entscheidenden Punkt kann ich mir vorstellen, den Unternehmen entgegenzukommen: Man könnte eine Tarifvertragsklausel in das Gesetz einbauen. Dort, wo ein Tarifvertrag Freistellung für berufliche Weiterbildung regelt, wird das angerechnet.
Werden Sie die Weiterbildungsmöglichkeiten eingrenzen?
Baden-Württemberg ist das Ehrenamtsland Nummer eins. Hier nimmt der Qualifizierungsbedarf zu. Ein Schwerpunkt des Bildungszeitgesetzes sollte meines Erachtens deshalb die Qualifizierung von Ehrenamtlichen sein. Im Übrigen profitiert auch der Betrieb davon. Wenn jemand im Verein Verantwortung für andere übernimmt, verbessert das die Sozialkompetenz des Mitarbeiters. Daneben sollte auch die klassische politische Fortbildung ihren Platz haben. Selbstverständlich gilt all das für zertifizierte Weiterbildungsangebote, um die Qualität zu sichern.
Die Wirtschaftsverbände reagieren sehr ablehnend. Das Verhältnis zur Wirtschaft wird nicht Schaden nehmen?
Nein! Das Thema eignet sich nicht für große ideologische Streitereien. In den allermeisten Bundesländern ist die Bildungszeit längst gelebte Praxis. Wir werden auch bei uns einen Ausgleich der Interessen hinbekommen. Da bin ich sicher.
Mit Aus- und Weiterbildung beschäftigt sich auch die Fachkräfteallianz. Zahlt sie sich aus?
Sie zahlt sich aus, weil zum ersten Mal alle beteiligten Akteure an einem Strang ziehen. Wir haben uns verpflichtet, regelmäßig zu überprüfen, wo wir bei gewissen Kennziffern stehen, etwa bei der Frauenerwerbsbeteiligung. Wichtig ist, dass wir Fachkräfteallianzen auch in der Region haben. Für mich ist der zentrale Punkt, dass wir mit der Allianz den Fachkräftebedarf auf die Agenda gesetzt haben. Damit machen wir deutlich, dass wir uns dafür einsetzen, auch künftig hier erfolgreiche Unternehmen zu haben.
Ist es für die Firmen nicht bequemer, nach Zuwanderung zu rufen, statt hier lebende Bewerber zu qualifizieren?
Das mag auf den ersten Blick so aussehen. Aber die Zuwanderung aus dem Ausland ist heiß umkämpft, und das Potenzial in der eigenen Gesellschaft ist groß.
Wo sehen Sie das denn?
Zum Potenzial gehören junge Leute ohne Ausbildung oder gar ohne Schulabschluss. Dazu gehören Frauen, deren Erwerbsbeteiligung wächst, aber immer noch gering ist. Auch Migrantinnen und Migranten sowie ältere Arbeitnehmer zählen dazu. Es gilt das alte Sprichwort: Warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute liegt so nah? Die Bereitschaft der Unternehmen, in unserem Modellversuch viele Betriebspraktikumsplätze bereitzustellen für junge Leute, die nach der Schule noch keinen Ausbildungsplatz haben, ist ein starkes Zeichen, dass die Wirtschaft das auch so sieht.
Wie groß ist denn die Bereitschaft der Unternehmen, auch Schwächere auszubilden?
Die Bereitschaft wächst. Der Arbeitsmarkt ist ein Bewerbermarkt geworden. Wer einen Ausbildungsplatz sucht, kann auswählen. Die Unternehmen müssen mehr werben und mehr in die Attraktivität der Ausbildung investieren. Das ist im Bewusstsein der Unternehmen voll angekommen.
Mit welchen Themen soll man im nächsten Wahlkampf den Finanz- und Wirtschaftsminister Schmid in Verbindung bringen?
Auf jeden Fall mit einer soliden Finanzpolitik: Dreimal die Nullverschuldung in einer Legislaturperiode erreicht – das hat noch keine Regierung geschafft. Ein wichtiges Anliegen ist mir auch, die berufliche Ausbildung nach vorne zu bringen. Dazu gehören gute Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten.