Professor Berthold Leibinger Foto: Moritz

Ex-Trumpf-Chef Leibinger spricht an seinem Geburtstag über Autorität und Discos.

Ditzingen - Die Kaffeeflecken auf der Untertasse wischt Berthold Leibinger rasch weg, bevor er trinkt. Es ist ein sorgfältiger und gründlicher Mensch, der am 26. November seinen 80. Geburtstag feiert. Eigentlich ist Berthold Leibingers Lebenslauf so sauber wie seine Untertasse - doch im Interview spricht er über Korrekturbedarf.

Herr Leibinger, was halten Sie von Discos?

Ich habe nur nebulöse Vorstellungen davon, wie es dort zugeht, weil ich selbst noch nie eine besucht habe. Die Atmosphäre kenne ich nur aus Filmen. Ich würde ja als "Obergrufti" sofort verjagt, wenn ich nur in die Nähe einer Discothek käme.

Man trifft dort auf Menschen, die nicht mehr so fit aussehen wie Sie. Warum sind Sie nie hingegangen?

Dieses Rumgehopse kann auf die Dauer nicht befriedigen. Wenn der Aufenthalt in Discotheken Arbeit wäre und nicht Vergnügen, würde die Berufsgenossenschaft das Etablissement sofort schließen, wegen Lärm, schlechter Luft und Enge.

Meiden Sie Vergnügungen?

Ich bin Skiläufer. Hier gilt das Gleiche: Man fährt auf einen vereisten Parkplatz und schlurft mit ungeeignetem Schuhwerk über glatten Untergrund. Auf dem Rücken trägt man bedrohliche Gegenstände, mit denen man andere gefährdet, sobald man sich umdreht. Dann fährt man in viel zu kurzer Zeit in viel zu große Höhen. Das belastet den Kreislauf. Beim Herunterfahren wird man gefährdet durch Leute, die unkontrolliert von der Seite oder von hinten heranschießen. Am schlimmsten sind die Snowboarder. Stellen Sie sich vor, Ihre Arbeit wäre so gefährlich. Dann würden Sie sie sicher nicht machen.

Haben Ihre Kinder auch immer so gedacht?

Wir haben ein Winterquartier in Klosters in der Schweiz. Dort gibt es eine Discothek im Ort. Casa Antica heißt die. Meine Kinder waren nie dort. Sie blieben zu Hause. Wir haben diskutiert, auch kontrovers, wir haben Spiele gemacht. Es gibt eine Bindungskraft in der Familie.

Die Bindungskraft reicht bis ins Unternehmen. War Ihre Autorität so stark, dass der Familie gar nichts anderes übrig blieb, als Ihrer Spur zu folgen?

Als ich das Unternehmen aufgebaut habe, musste ich den Weg vorgeben. Für autoritäre Menschen wie mich besteht die Gefahr, dass man auch zu Hause glaubt, immer recht zu haben. Aber ich habe eine Frau, die sehr stark ist. Sie hat mich in den letzten 53 Jahren oft scherzhaft, aber bestimmt darauf aufmerksam gemacht, dass sie nicht meine Angestellte ist. Aber man ist im Unternehmen oft toleranter und liebenswürdiger als zu Hause. An der schwäbischen Redensart vom Gassenengel und Hausteufel ist was dran.

Wann waren Sie Hausteufel?

Ich hoffe, dass ich keiner war. Aber ich glaube, dass wir alle unsere besten Stunden im Unternehmen verbringen. Hier sind wir wach und ausgeruht. Deshalb bemühen wir uns auch darum, es uns und unseren Mitarbeitern bei Trumpf schön zu machen. Diesem Bemühen liegt die Überzeugung zugrunde, dass die Arbeit der zentrale Teil unseres Lebens und das Nichtarbeiten kein sozialer Fortschritt ist. Seit den 1970er Jahren wird proklamiert: Je weniger wir arbeiten, umso sozialer und besser sei die Situation. Ich glaube, dass Arbeit Lebenserfüllung ist.

Manche Menschen empfinden Sport als Lebenserfüllung. Sie bezeichnen ihn als Ersatzreligion. Wodurch legitimiert sich die moralische Autorität, die Sie beanspruchen?

Meine Überzeugungen leiten sich aus meiner Zugehörigkeit zum Christentum ab. Am Ende meiner Tage möchte ich sagen, dass ich mit meinen Begabungen etwas Vernünftiges getan habe. Vernünftig heißt: Ich habe unser Leben ein bisschen besser gemacht.

Das setzt voraus zu wissen, was ein gutes Leben ist. Was macht Sie da so sicher?

Es gibt Erfahrungswerte in einer Gesellschaft. Die Menschen haben Spielregeln aufgestellt. Seien es die Zehn Gebote, die Kant'sche Ethik oder das Bürgerliche Gesetzbuch. Ich bin in einem pietistischen Umfeld aufgewachsen. Das hat mich geprägt. Darum denke ich, dass Merkmale wie Zurückhaltung, Fleiß und Höflichkeit, verbunden mit dem Liebesgebot, verbindlichen Charakter haben.

In welchen Situationen haben Sie an diesen Regeln oder am Glauben gezweifelt?

In meinem Leben gab es Niederlagen. Insgesamt aber hat das Leben mich verwöhnt. Zweifel an der Richtigkeit des eigenen Tuns habe ich immer wieder. Manchmal muss ich auch Korrekturen vornehmen. Darum bemühe ich mich. Es gelingt nicht immer.

"Ich neige zu Arroganz und denke, ich sei im Besitz der Wahrheit"

Was wollen Sie korrigieren?

Ich neige zur Arroganz und denke, ich sei im Besitz der Wahrheit. Wenn andere etwas anderes meinen, werde ich ungeduldig. Ich musste lernen, dass die jungen Menschen heute ganz anders fühlen und mit anderen Erwartungen hierherkommen. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Heute geht es um Selbstbestimmung. Jeder sieht sich als Zentrum seines Seins. Aber es gibt Grundanliegen im Menschen, die über die Zeit hinweg gleich bleiben. Man möchte anerkannt werden und etwas bewegen. Damit kann man die jungen Menschen gewinnen.

Haben Sie Angst, eines Tages nicht mehr anerkannt und gebraucht zu werden?

Es war schwierig, die Verantwortung für den operativen Prozess loszulassen. Manchmal habe ich noch Rückfälle. Angesichts meines vollen Terminkalenders versuche ich im Moment aber eher, weniger gebraucht zu werden. Angst habe ich allenfalls davor, im Alter abhängig zu werden. Am schlimmsten wäre es für mich, wenn ich irgendwann meinen wachen Sinn verlieren würde.

Mit welchem Gefühl gehen Sie Ihren 80. Geburtstag an?

Mit Gelassenheit. Ich kann ja nichts gegen ihn tun.

Welche Rolle spielt Humor für Sie? Pietistisch geprägten Familien unterstellt man ja, dass sie nicht gerade witzig sind.

Stimmt. Der Rektor auf der Korntaler Mädchenschule, die meine Frau besucht hat, meinte immer: "Korntaler Töchter lachen nicht", wenn die Schülerinnen giggelnd über den Flur gelaufen sind. Also als Kölner Karnevalsprinz wäre ich sicher eine Fehlbesetzung, gelacht wurde bei uns zu Hause aber viel.

Hatten alle Familienmitglieder zu jeder Zeit gleich viel zu lachen - etwa als Ihre Tochter, die Philologin, und nicht Ihr Sohn, der Ingenieur, Ihre Nachfolge antreten durfte?

Die Nachfolgefrage war schwierig. Beide sind geeignet. Die älteste Tochter (Nicola Leibinger-Kammüller; Anm. d. Red.) war bei uns immer die Leitfigur. In den letzten Jahren sind die Soft Factors immer wichtiger geworden: also der Umgang mit Menschen, die Unternehmenskultur, das Aussuchen von Mitarbeitern. Und dies kann eine Frau ebenso gut wie ein Mann. Manchmal besser. Sie spürt die Möglichkeiten, Eigenschaften und die Loyalität von Menschen besser.

Gibt es heute noch Missstimmungen?

Wir hatten es ja vorher besprochen, sonst wäre es nicht gegangen. Unser Sohn (Peter Leibinger; Anm. d. Red.) hat mit der Lasertechnik Verantwortung für den wichtigsten, zukunftsträchtigsten und wissenschaftlich interessantesten Bereich und macht es hervorragend.

Worauf sind Sie heute am meisten stolz?

Ich glaube, dass es gelungen ist, eine Familie und ein Berufsleben so zusammenzufügen, dass etwas Ordentliches dabei herausgekommen ist. In beidem. Zumindest haben wir es fertig gebracht, dass unsere Kinder nicht in die Discotheken gegangen sind. Wir halten als Familie zusammen. Selbstironisch sage ich manchmal, dass wir eine Familienkrankheit haben. Das Leibinger'sche Unentbehrlichkeitssyndrom. Wir denken immer, ohne uns ginge es nicht