Szene aus „Hey Lucinda“ von Rosie Pedlow und Joe King Foto: Pedlow / King

Ein Sänger verirrt sich aufs Riesenrad, ein Schwertkämpfer legt sich mit einem Festival an, Bobby Ewing reist nach Rumänien, und ein Saudi kauft sich einen Push-up-BH. Wir haben an den Rändern der Berlinale Eindrücke gesammelt.

Es ist unfassbar still in der Betonwanne, die Bert Neumann der Berliner Volksbühne hinterlassen hat. Man traut sich kaum zu atmen, die angespannte Ruhe zwischen den musikalischen Seufzern zu stören, die die Kammerpop-Stücke darstellen, die Stuart A. Staples mit seiner Band, den Tindersticks, spielt. Gerade singt er mit diesem eindringlichen Bariton das sanft torkelnde Abschiedslied „Hey Lucinda“. Er beklagt, dass der Sommer fast vorbei ist, dass die Zeit allmählich knapp wird, verrät, dass er nur tanzt, um sich zu erinnern, wie sich Tanzen anfühlt.

Und während Staples vorne auf der Bühne steht, übersetzen Rosie Pedlow and Joe King die mit einem Glockenspiel verzierte Melancholie des Lieds in traurigschöne Bilder, die an die Wand hinter der Band geworfen werden. In Zeitlupe fährt ihre Kamera an einer Spielhalle vorbei, inszeniert die Tristesse eines einsamen Vergnügungsparks, erzählt vom unendlichen Spaß, dem der Spaß vergangen ist.

Es ist der berückendste Moment im zweiten Konzert, das die Tindersticks in der ausverkauften Volksbühne geben. Die beiden Konzerte bilden den Abschluss eines Filmprojekts: 2012 war der vielseitig begabte Tindersticks-Frontmann Jurymitglied beim Internationalen Kurzfilmfestival in Clermont-Ferrand. Dort entstand die Idee, Regisseure damit zu beauftragen, für jeden Song auf dem nächsten Tindersticks-Album einen Kurzfilm ohne Handlung machen zu lassen.

Vergnügungsparks als einsame Unorte

Der deutsche Filmkünstler Christoph Girardet hat zum Beispiel für „Second Chance Man“ wunderbare Traumbilder geschaffen, die Französin Claire Denis folgt in „Help Yourself“ einem Mann, der durch einen Bahnhof irrt. So unterschiedlich die Filme in ihrer Machart sind, so erzählen sie doch immer wieder von Ziellosigkeit, von Unentschlossenheit, inszenieren Vergnügungsparks als traurige, einsame Unorte, bei denen selbst der Blick vom Riesenrad auf einen Sonnenuntergang nicht wirklich tröstlich ist.

Dieses kleine empfindsame Kurzfilmfestival trotzt an zwei Abenden der Berlinale. Und die Tindersticks sind nicht die Einzigen, die hier am Rosa-Luxemburg-Platz dem Berlinale-Fieber etwas Eigenes entgegensetzen.

Gleich gegenüber von der Volksbühne findet im Kino Babylon nämlich ebenfalls ein cineastisches Alternativprogramm zur Berlinale statt. Vier Tage lang gibt es dort das Asian Film Festival zu sehen, das zehn Kassenschlager aus China, Japan oder Südkorea auf die Leinwand bringt, die für den Berlinale-Geschmack wahrscheinlich etwas zu kommerziell wären. Eröffnungsfilm ist beispielsweise der monumentale Schwertkämpferfilm „Dragon Blade“ mit Jackie Chan.

Auch die Berlinale kann Bombast

Aber auch die Berlinale kann Bombast. Wenn das Festival im Eröffnungsfilm „Hail, Caesar“ noch einmal das alte Hollywoodkino mit all seinen mehr oder weniger liebenswerten Macken heraufbeschwört, dürfte das auch mit der Krise zu tun haben, in der sich das ambitionierte Kino seit Jahren befindet. Die Kreativen fliehen reihenweise zum Fernsehen, und wirklich Geld wird nur noch mit Superheldenstoffen verdient.

Zwar ist die Berlinale immer noch ein Platz für großartige Entdeckungen. Da wäre etwa die kuriose Dokumentation „Hotel Dallas“, die davon handelt, dass Ceausescu in Rumänien einst als einzige TV-Serie „Dallas“ zuließ, weil er glaubte, diese wäre das ideale Anschauungsobjekt, um der Bevölkerung vorzuführen, wie dekadent und verdorben der US-Kapitalismus ist. Oder die subversive romantische Komödie „Barakah trifft Barakah“ aus Saudi-Arabien, in der ein verliebter Laienschauspieler die Rolle von Ophelia in Shakespeares „Hamlet“ übernimmt und sich deshalb in einem Dessousladen einen BH kaufen muss. Doch immer öfter geht das Festival auf Nummer sicher, nimmt leichtgewichtige Filme wie die Komödie „Maggie’s Plan“ ins Programm, die mit Greta Gerwig, Julianne Moore und Ethan Hawke gleich drei Berlinale-Lieblinge zu bieten hat.

Und still und heimlich stellt das Festival inzwischen sogar das Kino als Filmabspielort und damit letztlich sich selbst infrage, erspart ausgewählten Journalisten all die mit einem Kinobesuch verbundenen Unannehmlichkeiten und lässt sie das Berlinale-Programm bequem von zu Hause aus über eine Internet-Cloud sichten. Ein Festival, für das man nicht einmal mehr die eigenen vier Wände verlassen muss? Das klingt noch trübseliger als der traurigste aller Tindersticks-Songs.