Dokumentarfilmer Gianfranco Rosi hat auf Lampedusa den Alltag des 12-jährigen Einheimischen Samuele Foto: Berlinale

Ein Filmfestival zeigt im konzentrierten Überblick, wo die Kunstform steht und was sie zu vermitteln hat. Im Idealfall wird es zu einem Spiegel seiner Zeit. So wie die diesjährige Berlinale, bei der sich relevante Themen und künstlerische Impulse trafen wie lange nicht.

Berlin - Geschichte wiederholt sich – doch die Vorzeichen sind manchmal völlig andere. Als der Brite Michael Winterbottom 2003 in Berlin den Goldenen Bären bekam für sein Flüchtlingsdrama „In This World“, glaubten in Europa noch viele, all das ginge sie nichts an. Nun sind die Menschen da und die Entrüstung ist groß, dass nichts vorbereitet war.

Auf Lampedusa können sie darüber nur den Kopf schütteln: Die kleine italienische Mittelmeerinsel rettet seit 20 Jahren Bootsflüchtlinge. Eineinhalb Jahre hat der Dokumentarfilmer Gianfranco Rosi (51) dort verbracht, bei Einheimischen gelebt und parallel Seenotretter begleitet, die mit Lebende, Kranke und Tote von schrottreifen Seelenverkäufern bergen. Der lokale Radiosender spielt dazu Sehnsuchtsmelodien wie „Fuocoammare“ („Feuer auf See“), nach der Rosi seinen Film benannt hat.

Er könnte kaum näher dran sein an einem hochbrisanten Thema, doch nicht dafür hat er nun den Goldenen Bären bekommen – sondern weil er die richtige Form gefunden hat, unaufgeregt Eindrücke vermittelt, die Stärken des Mediums ausspielt: Rosi kommentiert nicht, die Bilder sprechen für sich, brennen sich ein. Und er hört Insulanern und Flüchtlingen zu, die selbst am besten erzählen können, was sie bewegt.

Rosi fürchtet Mauern und Grenzen – besonders die geistigen

Eine Liebeserklärung ans Kinos ist dieser Film auch, Jury-Präsidentin Meryl Streep nennt ihn „Das Herz der Berlinale“. Strahlend überreicht sie Rosi am Samstagabend im Berlinale-Palast den Bären. Der nutzt das Forum: „In diesem Augenblick gehen meine Gedanken an all jene Menschen, die es nicht geschafft haben, auf Lampedusa anzukommen, der Insel der Hoffnung“, sagt er vor rund 1600 Gästen. Wieso die Menschen auf Lampedusa so offen sind für Flüchtlinge? „Weil sie Fischer sind, und Fischer akzeptieren alles, was übers Meer kommt“, erklärt der Filmemacher und mahnt: „Wir leben in einer Welt, in der gerade viele Mauern und Grenzen gezogen werden; am meisten Angst habe ich vor den geistigen.“

In der bosnischen Hauptstadt Sarajevo zerbrach 1914 Europa, 1992 war sie der Ausgangspunkt des Bosnienkrieges. Wie unter einem Brennglas schaut der bosnische Filmemacher Danis Tankovic in „Tod in Sarajevo“ auf diese Stadt in einer Satire, in der zum Jahrestag 2014 hochfliegende Reden über Frieden und Verständigung geprobt werden im Hotel Europa, während die zerfende Hotel-Belegschaft überwunden geglaubte Konflikte austrägt – was ja auch in Brüssel längst wieder zum Alltag gehört. Zurecht hat Tanovic dafür den Großen Preis der Jury bekommen .

Diese Berlinale war auch eine der gestandenen Frauen, für die im Kino lange Zeit kein Platz war. Isabelle Huppert (62), Trine Dyrholm (43) und Emma Thompson (56) haben dem Festival Geist, Herz und Seele gegeben. Dyrholm nimmt nun den Silbernen Bären für die beste Darstellerin mit nach Dänemark. Mutig spielt sie in Thomas Vinterbergs „Die Kommune“ eine TV-Moderatorin in den 1970er Jahren, die an der freien Liebe zugrunde zu gehen droht – und zeigt sich dabei ungeschminkt, mit allen Sorgenfalten.

Zwischen Zwängen der Tradition und Verlockungen der neuen Freiheit

Nicht minder überzeugend: Isabelle Huppert in „L’avenir“ als starke Philosophie-Lehrerin Nathalie, die typische Schicksalsschläge ihrer Altersklasse tapfer wegsteckt. Und die Männern, die sich ernsthaft für Frauen interessieren, einiges zu erzählen hat. Ausgezeichnet wurde sie immerhin indirekt: Sie hat den Stoff mit der französischen Filmemacherin Mia Hansen-Løve entwickelt, die dafür den Silbernen Regie-Bären bekam.

Ob Majd Mastour wirklich der beste Darsteller war als junger Tunesier, den es zu zerreißen droht zwischen Zwängen der Tradition und Verlockungen der neuen Freiheit, spielt letztlich keine Rolle: Alles an Mohamed Ben Attias Drama „Hedi“ ist preiswürdig, weil es das ganze Dilemma Nordafrikas nach dem Arabischen Frühling einfängt.

Andrés Bonifacio y de Castro, Freiheitskämpfer gegen die spanische Kolonialherrschaft, gilt auf den Philippinen als Mythos. Selbigen untersucht Filmemacher Lav Diaz in quadratischen Schwarzweiß-Bildern, die anmuten wie ein Bühnen-Experiment, wenn etwa eine Kleingruppe stundenlang durch den Dschungel irrt. Der achtstündige (!) Stoff könnte „neue Perspektiven eröffnen“, wie es der Alfred-Bauer-Preis vorgibt, aber sicher nicht im Kino, wo er wegen seiner Überlänge nie ankommen wird – sondern als Serie, dem Format der Stunde, dessen künstlerische Potenziale gerade erst ausgelotet werden.

Ein junger Kapitän auf dem Yangtse von heute erforscht chinesische Mythen und seine eigenen Gefühle

Ganz für die große Leinwand: „Chang Jiang Tu“ („Gegenströmung“) von Yang Chao. Ein junger Kapitän auf dem Yangtse von heute erforscht da chinesische Mythen und seine eigenen Gefühle, poetisch ins Bild gesetzt von Kameramann Mark Lee Ping-Bing, der seinen Silbernen Bären verdient hat. Das Rennen der Lastkähne auf den Weiten der Fluss-Mündung erinnert an einen Schwarm metallener Riesenraubfische auf der Jagd – in einer entfesselten Wirtschaft mit zunehmend ungewisser Zukunft.

Solche Motive sind tatsächlich beides: eine „herausragende künstlerische Leistung“ wie auch ein Spiegel ihrer Zeit. Und weil das kein Einzelfall war, ist die Berlinale ihrem Festival-Idealfall in diesem Jahr sehr nahe gekommen.