Fast täglich kommt es in Deutschland zu Angriffen auf Flüchtlingsunterkünfte. Nur ein Viertel der Fälle wird aber aufgeklärt – häufig werden die rassistischen Motive, die dahinter stecken, offenbar verkannt. Foto: dpa

Immer wieder verkennt die Polizei bei Gewalttaten offenbar rassistische Motive. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International wirft den deutschen Behörden nun Versagen vor – und fordert einen besseren Schutz von Flüchtlingsunterkünften.

Berlin - Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International wirft den deutschen Strafverfolgungsbehörden vor, Opfer rassistischer Gewalttaten im Stich zu lassen. „Die Zahl der erfassten rassistisch motivierten Angriffe ist so hoch wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik“, sagte Selmin Çalıskan, Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland. Recherchen der Organisation zeigen nun allerdings, dass es immer wieder zu Versäumnissen bei der Untersuchung und Strafverfolgung rassistisch motivierter Straftaten kommt – offenbar zum Teil auch bedingt durch Vorurteile und institutionellen Rassismus in den Behörden.

Fünf Jahre nach den Enthüllungen des NSU-Skandals gebe es noch immer Defizite bei der Bekämpfung rassistisch motivierter Straftaten. Der in Berlin vorgestellte 80-seitige Bericht von Amnesty International arbeitet mehrere Fälle auf, bei denen Polizisten offenbar verkannten, dass sie es mit einem Opfer rassistischer Gewalt zu tun hatten.

Grund sei wohl auch institutioneller Rassismus in den Behörden, der sich meist in Form von Vorurteilen, Nichtwissen und Gedankenlosigkeit äußere. „Die deutschen Behörden haben aus ihrem Versagen beim NSU-Komplex wenig gelernt“, kritisierte Çalıskan. Vielfach werde den Opfern nicht geglaubt, würden die rassistischen Motive der Tat verkannt und die Ermittlungen dann in eine ganz falsche Richtung gelenkt – ähnlich wie im Falle der NSU-Morde. Amnesty forderte daher nun die Bundesregierung dazu auf, die Polizei und andere Strafverfolgungsbehörden unabhängig auf institutionellen Rassismus untersuchen zu lassen. Es müsse geklärt werden, ob solche Einstellungen dazu führten, dass Menschen unabhängig von Hautfarbe oder Herkunft behandelt werden.

Die Menschenrechtsorganisation kritisierte zudem den unzureichenden Schutz von Flüchtlingsunterkünften in Deutschland – und forderte bundesweit verbindliche Sicherheitsvorkehrungen für die Unterkünfte. „Fast täglich kommt es zu rechten Übergriffen, werden Menschen beleidigt, bedroht, verletzt, wird eine Flüchtlingsunterkunft angegriffen“, sagte Marco Perolini, Hauptautor des Berichts zu rassistischer Gewalt in Deutschland. Insbesondere im Vergleich zu den Vorjahren ist die Anzahl gewalttätiger Angriffe gegen geflüchtete Menschen und Flüchtlingsunterkünfte erheblich gestiegen: 2015 verzeichneten die Behörden 1031 rassistisch motivierte Straftaten gegen Unterkünfte – fünfmal mehr als noch im Jahr 2014. Im ersten Jahresdrittel 2016 meldeten die Behörden 347 rassistisch motivierte Straftaten gegen Flüchtlingsunterkünfte. „Rassistische Ressentiments werden mit erschreckender Hemmungslosigkeit ausgelebt“, sagte Selmin Çalıskan dazu. Besorgniserregend sei dabei in diesem Zusammenhang aber die Aufklärungsquote der Brandanschläge: Nur etwa ein Viertel der Vorfälle werde aufgeklärt, heißt es von Amnesty.

Maas kündigt Auswertung der Studie an

Auch die Amadeu-Antonio-Stiftung beobachtet seit dem vergangenen Sommer einen enormen Anstieg rassistisch motivierter Gewaltangriffe gegen Flüchtlinge, Flüchtlingshelfer und Unterkünfte von Asylsuchenden. „Geht das so weiter, haben wir für 2016 statistisch wohl drei Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte täglich“, sagte Timo Reinfrank, Geschäftsführer der Stiftung, die sich gegen Rechtsextremismus engagiert. Das nun von Amnesty angeregte Sicherheitskonzept für Unterkünfte gehe aber am Problem vorbei. „Wir brauchen ein spezifischen Hingucken in bestimmten Regionen“, sagte er – und verwies auf den Zusammenhang zwischen regionalem Rechtsextremismus und Gewaltangriffen. Hierbei sei auch die Haltung der Polizei vor Ort in den Blick zu nehmen.

Bundesjustizminister Heiko Maas kündigte unterdessen an, die Studie von Amnesty auszuwerten und zu prüfen, ob Handlungsbedarf bestehe. Der Rechtsstaat dürfe rassistische Gewalt niemals hinnehmen, sagte Maas. Dafür habe man im März bereits den Grundstein gelegt. Beim Justizgipfel wurde dabei eine Verschärfung des Strafrechts gegen Rechtsextremisten beschlossen. Bereits im Jahr 2015 hatte es eine Änderung des Strafgesetzbuchs gegeben, nach der Gerichte explizit verpflichtet sind, mögliche „rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige menschenverachtende“ Motive bei der Strafzumessung zu berücksichtigen. Auch eine verstärkte Zusammenarbeit der Behörden bei der Bekämpfung rassistischer Taten wurde nach dem NSU-Skandal beschlossen. „In der Auseinandersetzung mit extremistischer und fremdenfeindlicher Gewalt müssen wir unsere Kräfte stärken und bündeln.“ Der Minister betonte auch, dass der „Kampf gegen Extremisten und Hetzer“ nicht allein mit den Mitteln der Justiz zu gewinnen sei – dies sei eine Gemeinschaftsaufgabe von Politik und Zivilgesellschaft. „Wir sind alle gemeinsam in unserem Alltag gefordert, gegen rassistische Gewalt aufzustehen“, sagte Maas.