Überfürsorgliche Eltern begleiten ihre Kinder nicht nur bis zur Schultüre, sondern bis ins Klassenzimmer Foto: dpa-Zentralbild

An etlichen Grundschulen bringen überfürsorgliche Eltern so große Unruhe in den Tagesablauf, dass sie von Rektoren ermahnt werden müssen. Die Schulpsychologische Beratungsstelle warnt trotzdem vor pauschaler Schelte.

Stuttgart - Die Beobachtung eines Vaters an einer Grundschule in Leonberg ist kein Einzelfall: Eine Mutter trägt ihrem Drittklässler den Ranzen ins Klassenzimmer und hilft ihm auch noch dabei, die Hausschuhe anzuziehen. Anschließend wird mit dem Lehrer auf dem Flur über die letzte Mathearbeit diskutiert und nach dem Stoff für die kommende Klausur gefragt. Der Pädagoge müsste sich zu dem Zeitpunkt längst um seine Schüler kümmern, was die Mutter allerdings nicht aus der Ruhe bringt.

Ähnliche Vorfälle häuften sich auch an der Schillerschule in Bad Cannstatt. Weil Schulleiter Ralf Hermann eine deutliche Entwicklung zu weniger Selbstständigkeit registrierte und diverse Appelle an die Eltern ins Leere gelaufen sind, wandte er sich im November in einem Rundbrief an die Eltern. Er forderte sie unter anderem auf, die Schüler an der Türe zu verabschieden und mehr Zusammenarbeit zuzulassen. Seitdem hätten sich einige Eltern Gedanken gemacht und es würden immer weniger Schüler zum Klassenzimmer begleitet.

„Es ging mir dabei nicht um Verbote, Schulordnung und Regeln, sondern um Verständnis und Einsicht, dass deren Fehlen die Entwicklung der Kinder bremst“, sagt Ralf Hermann. Er setzt deshalb auf eine Zusammenarbeit mit und Unterstützung durch die Eltern. „Gerade eine gute Partnerschaft von Schule und Eltern ist uns wichtig“, sagt Hermann.

Störungen sind von Eltern nicht beabsichtigt, aber sie nehmen sie in Kauf. Ihre Motive liegen zum einen in der latenten Angst der Eltern, ihr Kind könne ins Hintertreffen geraten, zum anderen versprechen sich die Erziehungsberechtigten auch einen Wettbewerbsvorteil für ihr Kind, wenn sie sich möglichst oft mit den Lehrern austauschen. Kollegen an anderen Grundschulen teilen diese Einschätzung.

An der Ameisenbergschule wurde eine sogenannte Kiss-and-Go-Zone eingerichtet, damit das Verabschieden außerhalb des Geländes stattfindet. Dafür klagt Rektorin Katja Konzelmann über Massen von Autos, die jeden Morgen das Gelände um die Schule zuparken und für gefährliche Situationen sorgen. „Ich nenne das Mit dem Auto in die bewegte Schule, dabei heißt das Projekt des Schulamts eigentlich Zu Fuß in die bewegte Schule“, sagt Konzelmann. Demnächst wird sie in der Sache einen Elternbrief losschicken.

Irmgard Sinning-Brinkmann, die Leiterin der Schulpsychologischen Beratungsstelle in Stuttgart, wehrt sich trotz des Drangs zur Überbehütung gegen eine pauschale Elternschelte. „Man muss genau hinschauen, woher die Ängste kommen und mit den Eltern im Gespräch bleiben“, sagt die Psychologin. Sie begrüßt es, dass mit dem neuen Lehrplan die Zahl der Beratungsgespräche an den Schulen zunehmen wird. „Das ist wichtig und wird an den Gemeinschaftsschulen schon praktiziert.“

Dennoch fordert sie die Väter und Mütter auf, ein Grundvertrauen zu den Kindern aufzubauen. Wenn sich Kinder zu sehr auf ihre Eltern verließen, führe dies zu Hilflosigkeit, gepaart mit hohen Ansprüchen. Ähnlich schätzt auch Ulrike Brittinger, Leiterin des Städtischen Schulamtes, die Situation ein.

„Eltern müssen lernen, loszulassen und dem Kind auch die entsprechenden Entwicklungsschritte zutrauen.“ Sie hat aber auch festgestellt, dass sich Eltern mit ihren Kindern gegen Erzieher und Lehrer verbünden, auch dort, wo das Kind selbst in Verantwortung zu nehmen wäre. Eltern räumten jede Gefahr aus dem Weg. Das andere Extrem seien Eltern, die sich überhaupt nicht um die Erziehung und Bildung ihrer Kinder kümmerten. „Da ist es nicht leicht, die Balance zu finden“, sagt Brittinger. Sie warnt aber ausdrücklich davor, das Kind zum Projekt des elterlichen Narzissmus zu machen. „Es besteht die Gefahr, dass Eltern ihre Kinder als ausgelagertes Ich betrachten.“

Mit diesen Themen beschäftigt sich auf Heike Deckert-Peaceman, Leiterin der Abteilung Pädagogik und Didaktik der Primarstufe an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Für die Professorin ist die heutige Gesellschaft durch eine Vielfalt an Familien- und Lebensformen geprägt, die in einer Schule zusammentreffen. „ Bei manchen Eltern zeigt sich eine starke Verunsicherung, die auch die vermehrt gefühlte Angst in vielen Bereichen der Gesellschaft widerspiegelt“, sagt Heike Deckert-Peaceman. „Diese gesellschaftlichen Entwicklungen sollen den Studierenden bewusst gemacht werden“, sagt sie. Deshalb werden die angehenden Grundschullehrer verstärkt auf das Thema Elternarbeit vorbereitet. „Wichtig ist, dass man Eltern einfühlsam beraten kann.“

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