Eine lückenlose barrierefreie Reise bis an den Urlaubsort ist so gut wie nicht möglich, sagt Rüdiger Leidner vom Verein Tourismus für Alle.

Dr. Leidner, Reisen ist ein Grundbedürfnis. Dennoch wird es einigen Menschen schwergemacht. Was sind die häufigsten Probleme für Reisende mit Behinderungen?
Für die meisten Menschen mit schwereren Einschränkungen wird die sogenannte schönste Zeit des Jahres zur Herausforderung. Schon der nicht barrierefreie Zugang zum Reisebüro erschwert die Reiseplanung. Oder die Online-Informationen der Anbieter sind für kognitiv beeinträchtigte Menschen wenig verständlich. Hinzu kommt die Frage der Verlässlichkeit der Information. Ist endlich ein barrierefreies Hotelzimmer gebucht, dann fehlt dem Rollstuhlfahrer möglicherweise der Wendeplatz neben dem Bett oder die ebenerdige Dusche. Nahezu überall mangelt es auch an der Sprachausgabe im Aufzug oder an taktilen, also erfühlbaren Zimmernummern für blinde und sehbehinderte Gäste. Legt man die Definition von Behinderung der Weltgesundheitsorganisation zugrunde, dann vertreten wir die Interessen von etwa 20 Millionen leicht und schwerbehinderten Menschen in der Bundesrepublik.

Ihre Organisation hat „Tourismus für alle“ zum Ziel. Was tun Sie dafür konkret?
Wir fordern nicht, dass Hotels zu Krankenhäusern umgebaut werden. Es fehlt an innovativen barrierefreien Lösungen. Menschen sind selten ihrer Einschränkungen wegen benachteiligt, sie werden durch Barrieren in ihrer Umgebung hilflos gemacht. Viele Behinderte erleben im Urlaub ihr blaues Wunder, obwohl sie glaubten, alles richtig gebucht zu haben.

Was läuft da schief?
In Deutschland bezeichnen sich einige Hundert Hotels als „barrierefrei“. Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband hat viele davon überprüft, inwieweit sie für blinde und sehbehinderte Gäste barrierefrei sind. Sieht man von den von Behindertenorganisationen betriebenen Hotels ab, erfüllte nur ein einziges Hotel in Berlin tatsächlich die gestellten Anforderungen. Das Problem besteht darin, dass es noch keine Bewertung durch kundige Dritte gibt. Die Hotels leisten lediglich Selbstauskünfte. Wir arbeiten an einer Verbesserung, einer Art Zertifizierung.

Sie vergeben auch ein Siegel. Was hat es damit auf sich?
Das von der Natko nach eigenen Prüfungen vergebene Siegel kennzeichnet barrierefrei touristische Angebote. Ich hoffe aber, dass es bald ein bundesweit einheitliches Kennzeichnungssystem gibt. Dazu müssen natürlich alle Bundesländer mitspielen.

Was muss sich konkret ändern, damit behinderte Menschen einfach reisen können?
Es beginnt schon damit, dass Menschen mit Behinderung keinen Anspruch haben, allein zu fliegen, sondern immer im Einzelfall die Genehmigung der Fluggesellschaft brauchen. Und auch die Deutsche Bahn kann Gruppenreisen mit Rollstuhlfahrern nicht gewährleisten. Es geht um die gesamte Reisekette, angefangen bei der Buchung über die Bewältigung der Entfernung von A nach B, die adäquate Unterkunft vor Ort bis zur gleichberechtigten Teilhabe am Kultur- und Sportleben.

Kann die Politik helfen?
Ja, durch eine entsprechende Gesetzgebung. Die Bundesregierung will die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen auch im Tourismus umsetzen. Die Politik ist gefragt, weil Planer meist nur das tun, was innerhalb des gesetzlichen Rahmens gefordert ist. Sehr eindrucksvoll haben das Großbaustellen wie Stuttgart 21 und der Neubau des Flughafens Berlin-Brandenburg gezeigt. Von einer vollständigen Barrierefreiheit im Sinne des Behindertengleichstellungsgesetzes ist insbesondere unsere gebaute Umgebung weit entfernt.

Wie sieht es mit der Integration im Ausland aus?
Ein Vergleich ganzer Länder in puncto Barrierefreiheit ist nicht möglich. Es gibt in allen entwickelten Ländern gute und schlechte Beispiele. Die guten Beispiele sind aber in allen Ländern immer nur Insellösungen. Eine geschlossene barrierefreie Reisekette von der Wohnung bis an den Urlaubsort gibt es so gut wie nicht.

Weder die Tourismuswirtschaft noch kleinere Anbieter scheinen ein Bewusstsein dafür zu haben, wie groß der Markt sein könnte, wenn sie begännen umzudenken.
Ganz genau. Barrierefreiheit kann auch für Nichtbehinderte wichtig sein. Wir sagen: Sie ist für zehn Prozent der Bevölkerung zwingend erforderlich, für über 30 Prozent hilfreich und für 100 Prozent komfortabel. Dazu muss man bedenken, dass ein schwerbehinderter Tourist selten allein reist. Wenn er mit seiner Familie oder Freunden unterwegs ist, bestimmen seine Bedürfnisse die Wahl des touristischen Angebotes. Von barrierefreien Angeboten profitiert nicht nur der Einzelne, sondern mehrere, unter anderem auch Familien mit Kleinkindern und Reisende mit viel Gepäck. Eine europäische Untersuchung kam zu dem Ergebnis, dass das Umsatzpotenzial für barrierefreie touristische Angebote in Europa bei über 16 Milliarden Euro liegt und allein aufgrund des demografischen Wandels bis 2020 deutlich ansteigt.

Braucht es mehr bauliche Veränderungen oder mehr Änderungen im Kopf?
Auch die baulichen Veränderungen setzen Veränderungen im Kopf voraus, nämlich in den Köpfen der Planer und finanziellen Entscheidungsträger. Darüber hinaus müssen wir alle uns besser klarmachen, dass der sogenannte Durchschnittsmensch eine absolute Minderheit ist. Wir sind alle verschieden, aber nur bei wenigen fällt das als Behinderung ins Auge.

Welche Erfolge gibt es schon?
Die Natko ist sich über das mangelnde Bewusstsein der Anbieter im Klaren. Aber es gibt Hoffnung: Auf der Internationalen Tourismusbörse (ITB) Berlin 2014 haben wir wie auch im vergangenen Jahr einen „Tag des barrierefreien Tourismus“ organisiert. Zum Fachkongress kamen über 200 Besucher aus der Tourismuswirtschaft, vom Fachpublikum und der Politik. Das Interesse am Thema ist also da.