Unterm Weihnachtsbaum trifft Marie (Michelle Willems) auf den Nussknacker (William Moore) Foto: Gregory Batardon

Das Ballettmärchen „Nussknacker und Mäusekönig“ erspart kindlichen Zuschauern normalerweise alles Verstörende, mit dem E. T. A. Hoffmanns Geschichte aufwartet. Nun bringt Christian Spuck in Zürich den ganzen nachtschwarzen Spuk auf die Bühne.

Zürich - Es könnte die Werkstatt von Dr. Coppélius sein, ein aufgelassenes Revuetheater, ein überaus geräumiges Wohnzimmer voll versteckter Schubladen, Schaukästen und Bodenluken oder einfach ein Ort der Einbildungskraft, in den wenig später ein gewisser Drosselmeier den Dampf seiner Elektrozigarette hineinpustet. Was auch immer sich Christian Spuck und sein Bühnenbildner Rufus Didwiszus für das Opernhaus Zürich ausgedacht haben: es ist ein Ort, unergründlich genug und so verschattet, dass man sich darin tatsächlich eine nachtschwarze Spukgeschichte von E. T. A. Hoffmann vorstellen kann.

Und genau darum geht es, sobald sich nach dem Vorspiel auf dem Theater der Vorhang endlich gehoben hat: um seine 1816 erschienene Erzählung „Nussknacker und Mäusekönig“, die Zürichs Ballettdirektor möglichst originalgetreu auf die Bühne des Opernhauses zurückholen möchte. Was gar nicht so einfach ist, denn Marius Petipa hat die literarische Vorlage so abgespeckt, dass zwar immer noch genug Fantasie-Futter für den Komponisten Peter Tschaikowsky übrig blieb, aber den kindlichen Zuschauern viel Verstörendes, Zweideutiges, ja nachgerade skandalös Anstößiges vorenthielt. Vor allem das mehrfach eingeschobene „Märchen von der harten Nuss“ fiel anno 1892 der librettistischen Bereinigung zum Opfer, weil seine ambivalenten Auswüchse und bizarren Handlungen so gar nicht in das Konzept eines familienkonformen Events zu passen scheinen.

William Moore scheint sich eher zufällig in dieses Stück zu verirren

Die sind zwar auch in Zürich allenfalls zu ahnen, aber weil Christian Spuck die „harte Nuss“ wieder in das zweiaktige Ballett hereinholt, kann er mit den Bedeutungsebenen so sinnverwirrend spielen, dass einem dabei ganz schön schwindlig werden kann. Wer ist dieser gelangweilte Junge im graugemusterten Pullover, der gleich zu Beginn auf die Bühne schlendert, aber alsbald hinter dem Vorhang wieder verschwindet? William Moore verkörpert ihn wie eine verjüngte Ausgabe von E. T. A. Hoffmann, halb an Henry Potter, halb an Berlins Ballettchef Nacho Duato erinnernd. Obwohl er sich eher zufällig in das Ballett verirrt, taucht er darin immer wieder auf, erst als Prinz, dann als verholzter Nussknacker. Wer ist dieser Drosselmeier, der sich als sein Onkel ausgibt und offenbar dem Theater seinen Atem einhaucht? Den Körper gerundet, den Zylinder auf dem ergrauten Kopf, den Rücken dem Publikum zugewandt, könnte er einem Ballett Marco Goeckes entsprungen sein. Doch dann entwickelt Dominik Slavkovsky tanzend ein Eigenleben, bei dem nicht nur die Rockschöße fliegen, sondern auch die Finger in einer unaufhörlichen Bewegung sind. Und wer ist in Wirklichkeit Marie, die sich so in die Prinzessin Pirlipat verguckt, dass sie am Schluss auch kostümlich so ausschaut, als wäre sie ein Teil des „Märchens von der harten Nuss“? Auch das bleibt der Fantasie des Betrachters überlassen.

Nach „Der Sandmann“ und „Das Fräulein von S.“ ist Spuck erfahren genug, um das Vieldeutige und Hintergründige E. T. A. Hoffmanns in den Griff zu bekommen. Zwar muss er manchmal die Musik gehörig durcheinander wirbeln, um den Verrücktheiten der Vorlage auch choreografisch entsprechen zu können, und das ist durchaus gewöhnungsbedürftig. Aber nur so kann Spuck sein Ballett so hoffmannesk erscheinen lassen wie sonst nie – und das hat einiges für sich, selbst wenn der große Erzählbogen dabei manchmal in die Brüche geht und von Yen Han und Matthew Knight wunderbar ausziselierten Clowns-Zwischenspiele entbehrlich scheinen.

Getanzt wird jedenfalls traumhaft schön, und das nicht nur dank Michelle Willems (Marie), Giulia Tonelli (Prinzessin Pirlipat), Elena Vostrotina (Tante Schneeflocke) und all den anderen. Auch die pantomimischen, puppenhaften Passagen passen, weil sie eine weitere, parodistische Erzählebene ermöglichen, ganz so wie man das aus dem „Kinder-Mährchen“ kennt. Am Ende der bejubelten Vorstellung allerdings vermischt, verwischt sich alles, wenn auf der Bühne wie im Zuschauerraum die Lichter angehen und man auch vom Publikum den Eindruck hat: Wir sind nicht alle ein bisschen Theater.