Szene aus Christian Spucks neuem Ballett „Anna Karenina“ mit Viktorina Kapitonova und Filipe Portugal Foto: Monika Rittershaus

Terence Kohler setzte Leo Tolstois berühmten Roman für das Badische Staatsballett um, Sidi Larbi Cherkaoui und Alexej Ratmansky inspirierte er ebenso: „Anna Karenina“ hat bei Choreografen Hochkonjunktur. Nun bringt auch Christian Spuck, ehemaliger Haus-Choreograf des Stuttgarter Balletts, in Zürich große Gefühle zum Tanzen.

Zürich - Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist auf ihre Weise unglücklich. Auf den ersten Blick lassen sie sich allerdings nicht voneinander trennen. Die Familienaufstellung, die Christian Spuck im Prolog seiner jüngsten Balletturaufführung zeigt, lässt zunächst keinen Unterschied erkennen. Alle Akteure stehen auf der Bühne des Zürcher Opernhauses – in Schwarz, starr und schweigend. Erst eine choreografischen Analyse wird in den folgenden Stunden erweisen, wer sich von ihnen in der Tolstoi-Adaption zu der ersten Familienkategorie zählen darf und wer nicht. Gehören die Karenins vielleicht dazu? Die Wronskis? Oder haben am Ende allein die Lewins das Glück gepachtet?

Das zu erfahren, muss man nicht unbedingt den vielseitigen Roman „Anna Karenina“ gelesen haben. Ein zweistündiger Ballettabend genügt, um in nicht gerade groben Zügen die Zusammenhänge zu erfahren und daraus seine Schlüsse zu ziehen. Spuck kann erzählen, und das hat er oft genug und nicht zuletzt zur Freude seines Stuttgarter Publikums in abendfüllenden Kreationen à la „Lulu“ oder „Leonce und Lena“ getan.

Ein Erzählballett ist denn auch „Anna Karenina“ geworden, wenngleich darin so vieles unausgesprochen bleibt. Wie im Zeitraffer zeigt sich die Handlung. Gerade noch schäkerte Stiwa, ein Schwerenöter, wie er in Tolstois Buche steht, auf dem Sofa mit den Dienstmädchen, da findet sich der Betrachter an einem Bahnhof in Moskau wieder. Noch dampft der Zug, projiziert auf eine Leinwand, als sich Anna Karenina und Wronski erstmals begegnen. Ein Blick, und es ist um sie geschehen. Ein Ball schließt sich an, von Spuck choreografiert als eine Abfolge schneller Szenen, und dabei finden sie sich im rauschhaften Tanz.

Viel Zeit zur Vertiefung bleibt da nicht, und erst „auf dem Land“ hält das Ballett einen Augenblick lang inne. Anna Stéphany singt ein Lied von Sergei Rachmaninow, und für Lewin ist nicht nur die Nacht traurig, wie es in dem Lied heißt. Von Kitty zurückgewiesen, lässt er seiner Sehnsucht freien Lauf, und das geschieht so überzeugend, wie man es sich insgesamt für die Aufführung gewünscht hätte. Tars Vandebeek, von Spuck einst bei Gauthier Dance entdeckt, entwickelt sich in seiner ersten Hauptrolle zu einem Sympathieträger des Zürcher Balletts. Ihm fliegen die Herzen der Zuschauer nur so zu – und mit Verzögerung auch das von Kitty, die ihren Wronski zwar an Anna Karenina verliert, sich dafür aber in einer gefestigten, man könnte auch sagen: bodenständigen Beziehung wiederfindet.

Den anderen ist dieses Glück nicht gegeben. Dolly (Galina Mihaylova) klammert sich krampfhaft an ihren Stiwa (Arman Grigoryan), obwohl der sich notorisch Befriedigung schafft mit anderen Frauen. Anna Karenina wiederum, eigentlich vernünftig verheiratet und eine gute Mutter, lässt sich von ihrer Leidenschaft so mitreißen, dass sie am Ende alles verliert: Liebe, Lust, schließlich sogar das Leben. Im Roman wirft sie sich unter einen Zug. Im Ballett tanzt sie sich in den Tod. Das zumindest ist schlüssig.

Im Magazin des Opernhauses bekennt Viktorina Kapitonova, dass sie die Anna nicht richtig verstehe. Das ist ihrer Karenina auch durchaus anzumerken. Obwohl schön anzuschauen, scheint sie gänzlich unberührt von einem Schicksal, das eine Greta Garbo, eine Vivian Leigh, eine Sophie Marceau oder Keira Knightley ungleich tragischer gestaltet haben. Sich vorzustellen, wie Marcia Haydée eine solche Partie profiliert hätte, bringt einem ihre „Kameliendame“ in Erinnerung, die sich Christian Spuck bewusst oder unbewusst zum Vorbild nimmt.

Bei Neumeier gäbe es vermutlich weniger Brüche und keinen so scharfen Schnitt wie der zwischen der Musik eines Rachmaninow und Lutoslawki (von den eher überflüssigen Zuggeräuschen eines Martin Donner ganz zu schweigen). Dafür aber hätte er sich womöglich Zeit gelassen, damit sich ein Gefühl so vertieft, bis einem schwindelt. Das ist hier am ehesten noch am Ende des ersten Aktes der Fall, wenn Anna Karenina sich zwischen Alexej Karenin (Filipe Portugal) und Graf Wronski (Denis Vieira) schier zerrissen sieht.

Nachhaltiger prägt sich allerdings eine Szene ein, die sich „Auf dem Lande II“ nennt. Wie sich der Lewin von Tars Vandebeek darin Schritt um Schritt einschwingt in die Sensenbewegungen seiner Bauernburschen, wie sich die Kitty Katja Wünsches später seiner Bewegtheit angleicht, bis sie die eigene ist – das hat eine Aussagekraft, die der von Emmy Ryotts Ausstattung eingeschwärzten Choreografie bisweilen fehlt.

„Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich“, sagt Tolstoi am Anfang seines Romans. Aber darstellen lassen sie sich offenbar besser als die unglücklichen. Zumindest in Zürich.