Nach der Volksabstimmung erwartet Bahn-Chef Rüdiger Grube, dass sich die Landesregierung "zum Projekt Stuttgart 21 bekennt und es beim Bürger durchsetzt". Foto: dpa

Bahn-Chef Rüdiger Grube warnt das Land vor einem teuren Ausstieg aus Stuttgart 21.

Stuttgart - Rüdiger Grube ist zuversichtlich, dass die Bürger bei der Abstimmung am Sonntag Stuttgart21 bestätigen. Eine Projektalternative gibt es nicht, warnt der 60-jährige Bahn-Chef. Auch wenn S21 teurer wird, trage das Land weiter die Verantwortung.

Herr Grube, was erwarten Sie von der Volksabstimmung am Sonntag?
Ich gehe davon aus, dass die Mehrheit der Bürger die verkehrlichen, ökologischen und städtebaulichen Vorteile von Stuttgart 21 erkennt und gegen das S-21-Kündigungsgesetz stimmt. Außerdem hoffe ich, dass die Wahlbeteiligung hoch ausfällt. Das wäre dann ein wirklich schöner Erfolg für S 21.

Was erwarten Sie von der Politik?
Da habe ich sehr klare Erwartungen: Die Grünen und die SPD in der Landesregierung müssen nach der Volksabstimmung klipp und klar sagen, wie es mit dem Projekt Stuttgart 21 weitergeht. Ministerpräsident Kretschmann hat bereits gesagt, er werde jedes Abstimmungsergebnis akzeptieren. Diesem Wort des Ministerpräsidenten vertraue ich! Außerdem vertraue ich der Klugheit der Baden-Württemberger: Neun von zehn Menschen, die zur Abstimmung gehen, wollen das Ergebnis laut einer Meinungsumfrage annehmen. Dieser Grundkonsens ist sehr wichtig. Das ist die Grundlage für einen Schlussstrich unter die jahrelangen Streitigkeiten.

Sie sind selbst bei etlichen Pro-S21-Veranstaltungen zur Volksabstimmung aufgetreten. Wie schätzen Sie die Stimmung ein?
Ich war nicht nur Manager in einem Auto-, sondern auch in einem Luftfahrtkonzern, darum erlaube ich mir mal als Bahn-Chef ein Bild aus der anderen Branche: Ich fliege seit Monaten durch schweres Wetter. Ich halte den Kurs, ich komme gut voran, trotzdem ist es zeitweilig anstrengend. Am Sonntag jedoch - da bin ich zuversichtlich - wird der Himmel aufreißen und die Sonne scheinen.

Hängt Ihre berufliche Zukunft vom Ausgang der Abstimmung ab? Tritt der Vorstandsvorsitzende zurück, wenn ein so wichtiges Projekt der Bahn AG beim Bürger durchfällt?
Das Projekt S21 hat nun wirklich nichts mit meiner beruflichen Zukunft zu tun.

Werden Sie auf jeden Fall daran festhalten - egal, wie die Abstimmung ausgeht?
Die Deutsche Bahn hat 2009 Verträge mit dem Bund, dem Land, der Stadt Stuttgart, der Region und dem Flughafen geschlossen, die mich heute zur Realisierung von S21 verpflichten. Das ist der Stand der Dinge. Gegen einen hartnäckigen Willen einer Landesregierung, dessen bin ich mir freilich bewusst, lässt sich ein Infrastrukturprojekt von dieser Komplexität auf Dauer wohl kaum realisieren.

Das heißt?
Sollte das Kündigungsgesetz scheitern, wird S21 gebaut, und da erwarte ich von allen Partnern, auch dem Land, das Projekt nach Kräften zu unterstützen. Sollte es je eine Mehrheit für den Ausstieg des Landes geben und diese auch das Quorum erreichen, liegt der Ball beim Land. Die Landesregierung müsste dann versuchen, Kündigungsrechte - die nicht bestehen - geltend zu machen. Dagegen muss und wird die Deutsche Bahn klagen, schon alleine damit dem Unternehmen kein Schaden entsteht. Am Ende stünde das Land mit leeren Händen da: Es müsste Milliarden aus seinem Haushalt entnehmen, um den Ausstieg zu finanzieren, und hätte nichts. Denn für das vermeintliche Alternativkonzept K21 mit einem sanierten Kopfbahnhof gibt es keinerlei Pläne und keine Finanzierung. Wer Nein sagt zu S21, sagt also nicht Ja zu K21, sondern Ja zu G21.

Für was steht G21?
Gar nichts 21. Sprich: Die schnellen Züge in Richtung München fahren über Ingolstadt an Stuttgart vorbei.

Drohen Sie den Bahnreisenden etwa?
Nein, im Gegenteil. Ich spreche hier für die Position der Bahnkunden und der Baden-Württemberger. Den Menschen muss ehrlich gesagt werden, was am Sonntag auf dem Spiel steht: Da geht es um handfeste Auswirkungen auf den Schienenverkehr der Zukunft und den Wirtschaftsstandort Baden-Württemberg, von den städtebaulichen Nachteilen für die Landeshauptstadt ganz zu schweigen.

"Das kann sich ein starkes Land leisten"

Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) argumentiert, ein Ausstieg würde das Land maximal 350 Millionen Euro kosten. Wer hat recht?
Die Ausstiegskosten liegen nach wie vor bei mindestens 1,5 Milliarden Euro. Nicht nur die Bahn, auch Stadt, Region und Flughafen werden Forderungen erheben. Wenn wir S21 hingegen realisieren, erhält das Land für seinen Beitrag von bis zu 930 Millionen Euro den modernsten Bahnknoten Deutschlands. Das nutzt allen Bürgern: Acht Millionen der elf Millionen Baden-Württembergern leben in Regionen, die direkte Vorteile von S21 und der dazugehörigen ICE-Neubaustrecke Wendlingen-Ulm haben.

Die Kosten für S21 gibt Ihr Unternehmen derzeit mit maximal 4,5 Milliarden Euro an; bei der ICE-Strecke sind es 2,9 Milliarden Euro. Ist das nicht viel zu viel Geld für einen Bahnhof und eine Strecke angesichts leerer Staatskassen und überschuldeter Haushalte?
Die jährliche Wirtschaftsleistung Baden-Württembergs liegt bei rund 345 Milliarden Euro. Der finanzielle Beitrag des Landes für beide Bahnprojekte entspricht kaum 0,5 Prozent dieser Summe. Das kann sich ein starkes Land leisten. Außerdem liegen wir im Plan: Wir wollen bis Ende des Jahres 50 Prozent aller Aufträge für S21 vergeben haben, darin enthalten sind auch 90 Prozent kostenintensiver Tunnelaufträge. Bisher liegen wir im grünen Bereich.

Kritiker warnen, das Projekt S21 kannibalisiere alle anderen Schienenprojekte.
Das ist nicht richtig. Nur ein Beispiel: Wir werden allein in diesem Jahr 850 Millionen Euro für die Bahn-Infrastruktur in Baden-Württemberg investieren; im Vorjahr waren es 610 Millionen Euro. Für die Elektrifizierung der Südbahn nach Lindau hat Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer jetzt 140 Millionen in Aussicht gestellt. Da wird Minister Hermann gefordert sein, sein Versprechen von 50 Prozent Mitfinanzierung einzulösen. Abgesehen davon: S21 bindet nur drei Prozent der Bundesmittel für Schienenprojekte und nur 15 Prozent der Landesmittel für den Nahverkehr.

Minister Ramsauer sieht S21 und die Strecke nach Ulm als Einheit. Im Interview mit unserer Zeitung hat Minister Hermann widersprochen und erklärt, der Bundestag entscheide über die Strecke und sie könne auch ohne S21 gebaut werden. Was stimmt?
Ein Blick in die Verträge genügt. Dort steht ausdrücklich, dass beide Projekte zusammengehören und bis 2019/2020 gleichzeitig fertiggestellt sein sollen.

Hermann warnte im Interview auch davor, dass S21 erheblich teurer wird und die Finanzierung der Mehrkosten ungeklärt sei. Das werde die Bauzeit auf 20 Jahre verdoppeln. Wie bewerten Sie dieses Szenario?
Ich habe mir zu diesem Thema zwei unabhängige Rechtsgutachten anfertigen lassen, die beide zum Schluss kommen, dass - sollten die Baukosten die vereinbarte Kostenobergrenze von 4,5 Milliarden Euro durchstoßen aus Gründen, die zu Beginn des Bauens nicht bekannt waren - alle Vertragspartner trotzdem verpflichtet wären, das Projekt zu Ende zu bauen. Wenn die Landesregierung in einem solchen Fall ihren finanziellen Anteil verweigert, würde sie sich schadenersatzpflichtig machen. Keiner kann sich in die Ecke setzen und sagen: Ich nicht.

Das gilt auch für Stadt und Region?
Das gilt vorrangig für die Bahn und das Land, wobei das Land sich mit der Stadt, der Region und dem Flughafen abstimmen muss. Der Beitrag des Bundes ist laut Vertrag definitiv gedeckelt. Bei der Neubaustrecke trägt er allerdings alle Kosten jenseits der 950 Millionen Euro Landeszuschuss.

Halten Sie den Fertigstellungstermin 2019/2020 ein?
Wir wollen es. Doch das hängt jetzt auch entscheidend vom Land ab. Die grün-rote Regierung muss sich klar zum Projekt bekennen und es beim Bürger durchsetzen.

Das meiste Geld verdient die Deutsche Bahn mit dem Regionalverkehr. Weil das Land hier Auftraggeber ist, rät Ihnen Minister Hermann ab, das Land wegen S21 zu verklagen. Wie sehen Sie das?
Nur weil die Deutsche Bahn im Regionalverkehr gut und eng mit Baden-Württemberg zusammenarbeitet, kann sie nicht einen Vertragsbruch mit massiven finanziellen Nachteilen in Kauf nehmen. Das würde mir zu Recht einen Riesenärger bescheren mit dem Bundesrechnungshof, dem Parlament, meinem Aufsichtsrat und - in einem bundeseigenen Unternehmen - mit allen Steuerzahlern. Der Rat von Minister Hermann ist also inakzeptabel. Damit das klar ist: Wir werden im Ernstfall klagen, weil wir klagen müssen. Bahn, Stadt, Region und Flughafen werden insgesamt weit über 1,5 Milliarden Ersatzansprüche geltend machen.

"Ich bin von der Notwendigkeit moderner Infrastruktur überzeugt"

Was halten Sie von dem Vorwurf der Grünen, dass S21 von Kanzlerin Angela Merkel und der Bundes-CDU genutzt wird, um der Ökopartei im schwarzen Stammland Baden- Württemberg das Leben zu vergällen?
So denke ich nicht. Meine Aufgabe ist es, das Unternehmen ordentlich zu führen. Im Übrigen bauen wir derzeit nicht nur S21, sondern haben bundesweit Dutzende Projekte im Volumen von 80 Milliarden Euro in der Pipeline. Ich bin von der Notwendigkeit moderner Infrastruktur überzeugt, weil optimale Verkehrsanbindungen eine Voraussetzung für wirtschaftliches Wachstum sind - ebenso wie die Investitions- und Planungssicherheit. Das sollten wir nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Die Deutsche Bahn steht da für den Wirtschaftsstandort Deutschland, die Sicherung von Arbeitsplätzen und den Wohlstand in der Pflicht. Dafür setze ich mich intensiv ein.

Großprojekte wie die ICE-Strecken Frankfurt-Köln und Nürnberg-Ingolstadt oder der Hauptbahnhof in Berlin sind durch horrende Kostensteigerungen aufgefallen. Deshalb misstrauen viele speziell der Planungsleistung der Bahn. Auch in Stuttgart hakt es: Während im Talkessel die Bauarbeiten für S21 vor fast zwei Jahren begonnen haben, liegen für den Bereich Filder/Flughafen noch nicht einmal konkrete Pläne vor, geschweige denn amtliche Baugenehmigungen. Ist das solide Arbeit?
Man redet gerne von den wenigen Projekten, die außerhalb des Budgets liegen. Es gibt aber sehr viel mehr Projekte, die im Budget liegen oder darunter.

Fakten im Talkessel, keine Genehmigung auf den Fildern?
Es ist in Deutschland üblich bei Großprojekten, dass der Bau beginnt, während noch geplant wird. Anders wäre das zeitlich nicht zu schaffen. Sie sollten aber berücksichtigen, dass es vor Baubeginn immer eine grundsätzliche Übereinkunft mit allen Akteuren über ein Projekt gibt, auch mit der unabhängigen Genehmigungsbehörde Eisenbahnbundesamt. Die sogenannte Vorhabenbegründung ist zentraler Bestandteil des ersten, seit 2006 rechtskräftigen Planfeststellungsbeschlusses von S21.

Falls die Volksabstimmung so ausgeht, wie Sie es erwarten: Wann wird der Südflügel des Bonatzbaus abgerissen, wann werden die Bäume auf dem Baufeld im Schlossgarten verpflanzt oder gefällt?
Wir wollen mit dem Abriss des Südflügels nicht vor Weihnachten beginnen, weil mir die besinnliche Weihnachtsruhe wichtig ist. Wir wollen nicht ohne Not Emotionen schüren. Der Abriss steht aber unmittelbar nach Neujahr an - spätestens nach dem Feiertag am 6.Januar. Um mit der Hauptbauphase wie vom Eisenbahnbundesamt vorgesehen am 1.Juli 2012 beginnen zu können, muss bis dann die Baulogistik eingerichtet sein, das Technikgebäude gebaut, das Grundwassermanagement installiert und die Bäume verpflanzt oder gefällt sein.

Rechnen Sie mit starken Protesten gegen die Bauarbeiten?
Da setze ich auf das Wort des Ministerpräsidenten: Er hat persönlich eine Befriedung des Konflikts durch die Abstimmung versprochen. Die besagten 90 Prozent der Bürger, die das Ergebnis anerkennen wollen, sind eine gute Botschaft - und ein Signal an alle Projektgegner, die schon heute ankündigen, eine Niederlage nicht zu akzeptieren. Wer so redet, stellt sich ins Abseits.

Falls weiter gebaut wird, brauchen Sie den Lenkungskreis mit den Spitzenvertretern von Land, Stadt, Region und Bahn. Wie vergiftet ist das Klima in dem Gremium, nach all dem Zoff für und gegen S21?
Wir arbeiten auf der Sachebene gut zusammen, auch mit Minister Hermann. Wir sind alle Profis.

Ist das ein Appell? Oder Gewissheit?
Beides.

Wie geht der Bürger Rüdiger Grube, der auch in Baden-Württemberg lebt, mit der Volksabstimmung um?
Der Bürger Rüdiger Grube hat bereits per Brief abgestimmt. Am Sonntagabend werde ich das Ergebnis der Abstimmung vor dem Fernseher mit Spannung erwarten.