„Swing, please!“: Der künstlerische Leiter der Internationalen Bachakademie bringt bei Bachs „Himmelfahrts-Oratorium“ mächtig Schwung in das JSB-Ensemble Foto: Holger Schneider

Vier Bach-Kantaten zu Ostern und Himmelfahrt stehen im Zentrum der Bachwoche, die bis zum Sonntag von der Internationalen Bachakademie veranstaltet wird. Nachwuchsmusiker aus 18 Nationen lernen hier, wie Barockmusik in Deutschland klingt. Ein Tag an der Musikhochschule Stuttgart.

Stuttgart - In diesen hellen Frühlingstagen ist der Geist zuweilen schwach. Oder zumindest verwirrt. So mag es zum Beispiel vorkommen, dass man in einer Podiumsdiskussion über Bachs Kantaten zu Ostern und Himmelfahrt sitzt und neben Musikern und Theologen auf der Bühne plötzlich einen Pathologen auszumachen meint, der über Nahtoderfahrungen spricht. Oder man erlebt musikalische Text-Vertiefung bei Bach und erfährt dann, dass die Noten ursprünglich zu einem ganz anderen Text komponiert wurden. Und im verwirrendsten aller Fälle kann es sogar vorkommen, dass Musiker zu tanzen beginnen.

Aufwärmen

Im Orchesterprobenraum der Musikhochschule haben sich die Sänger und Instrumentalisten versammelt, die in diesem Jahr das JSB-Ensemble bilden – also jene Nachwuchstruppe, deren Initialen auf Bach verweisen, aber auch für den Dreiklang aus jung, Stuttgart und Bach stehen. Aus den Lautsprechern tönt Barockes von Bach und Vivaldi, und gut sechzig junge Musiker gehen einen Schritt rechts, einen Schritt links, einen nach vorne, bewegen die Arme in weitem Bogen von rechts nach links, von links nach rechts, genau so, wie es ihnen Friederike Rademann, Ehefrau des künstlerischen Leiters der Bachakademie, vormacht.

Bach, das ist Tanz, zumindest auch, und das gilt nicht nur für dieses ungewöhnliche Warm-Up vor der Ensembleprobe: „Nehmt diese Ideen mit und gebt sie bei euch zu Hause weiter!“, sagt Kathy Saltzman Romey, zuständig für die Einstudierung des Chores, für Übersetzungen aus dem Sächsischen ins Amerikanische und für alles andere irgendwie auch. Man darf sicher sein, dass die international gecasteten jungen Musiker viel mehr noch aus Stuttgart mitnehmen werden als nur dies, denn der ganze Tag ist ein einziger Beweis dafür, dass Hans-Christoph Rademann nicht nur Vieles ähnlich macht wie sein Vorgänger Helmuth Rilling, sondern auch genau das Richtige anders.

Proben

Folgen wir dem Chef also in den Konzertsaal. Dort geht der heiße Tanz weiter: erst mit Bachs zweitem Brandenburgischen Konzert,welches das Orchester gleichsam zum Aufwärmen der Körper und der verwirrten Geister spielt – sehr jugendlich und ganz ohne Rademann, der die Musiker erst einmal alleine machen lässt und aus dem Publikum zuhört. Die Probe des „Himmelfahrts-Oratoriums“ beginnt mit dem Schlusschoral. Dabei geht es um Transparenz, um Klangbalance, um Phrasierungen und manchmal auch schlicht um Ordnung. Im Englischen ist Rademann nicht ganz zu Hause. Manchmal spricht er einfach Deutsch. Und manchmal mischt er die Sprachen („not suddenly Akzent!“) in einer Weise, die ahnen lässt, warum Derlei auch als radebrechen bezeichnet wird. Er wird aber verstanden, egal wie. Die Musik tanzt. Und für noch mehr Genauigkeit bei den Sechzehntelnoten wird die gute Seele des Chores schon noch sorgen.

Die Proben sind öffentlich. Und sie lohnen das Dabeisein. Aus der Alt-Arie der Kantate BWV 11 („Ach, bleibe doch, mein liebstes Leben“) machen zwei unterschiedliche Sänger-Persönlichkeiten zwei unteschiedliche Stücke. Das kurze Tenor-Rezitativ nimmt Hans-Christoph Rademann zum Anlass, die Zuhörer noch einmal auf die Bildkraft der sich kreuzenden Bewegungen in der Musik hinzuweisen, und einem Flötisten erklärt er bei der Bass-Arie, dass seine tropfenden Töne nichts anderes sein sollen als jene „heißen Tränen“, von denen im Text die Rede ist.

Nebenbei proben Solisten in Meisterkursen. „Seele, deine Spezereien“: Jae Eun Park singt die Sopran-Arie des „Oster-Oratoriums“ BWV 249 . Freier, findet Ulrike Sonntag, muss die Koreanerin noch werden. „Stellen Sie sich vor, Sie sind gerade bei einem Gesangswettbewerb und gewinnen den ersten Preis!“, fordert die Dozentin, und: „Genießen Sie die Musik, geben Sie ihr Ihre ganze Seele, und werden Sie nicht klein!“ Befreites Gelächter – auch als Marcelo Amaral am Klavier so schön spielt, dass die Sängerin glatt ihren Einsatz verpasst.

Im Alt-Zimmer arbeitet die Polin Anna Krawczuk an der Färbung der Laute. Das „sch“ soll klingen wie in „schön“, nicht so weit hinten im Gaumen wie beim Wort „schrecklich“, findet Ingeborg Danz. Sie gibt ihrer Schülerin („Sie machen Raum, aber der Raum hat keine Richtung“) ein rotes Theraband: Zwischen den Händen zu den Seiten gezogen, dehnt es den Brustkorb. „Ich glaube ganz fest an Sie!“, sagt Danz.

Andere Sache, anderer Sachse

Bei den Bässen singt Marcel Brunner Wolframs Lied an den Abendstern aus dem „Tannhäuser“. Nach so viel Bach klingt Wagner wie Musik von einem anderen Stern. „Sie sind zu gesund für dieses Lied“, sagt Klaus Häger zu seinem Schüler, freut sich aber auch darüber, auch bei Wagner etwas von Bachs „ängstlichem Vergnügen“ gefunden zu haben. Andererseits: Die weiten Linien hier, sie muss man singen. Die Todesahnung. Und, ganz pragmatisch: „Sie müssen sich für einen Vokal entscheiden!“

Von Leib und Seele

Und wie ist das nun mit der Auferstehung des Fleisches? In einer Podiumsdiskussion erläutert der Pathologe Peter Stosiek, dass sich der menschliche Körper alle zehn Jahre komplett erneuere – und „welcher von den sieben Leibern, die ich hatte“, fragt er, „soll eigentlich auferstehen?“ Nahtoderfahrungen legten allerdings nahe, dass es im Menschen eine Instanz geben könne, „die weiterleben kann, wenn Körper und Gehirn zersetzt sind“. Stuttgarts Prälat Ulrich Mack erklärt, wie sich im Auferstehungsverständnis der Bibel das ganzheitliche hebräische Menschenbild niederschlägt, das Leib und Seele als Einheit verstehe. Und Hans-Christoph Rademann verweist beim „Oster-Oratorium“ (das ursprünglich eine weltliche Kantate war – „Bach war halt ein ganz normaler Mensch, der nicht immer Zeit hatte für Neues“) nicht nur auf Bachs historische Wurzeln in der musikalischen Gestik von Heinrich Schütz, sondern erinnert auch an den Brauch, die Gemeinde in der Osterpredigt zum Lachen zu bringen.

Die älteren Sänger im Chor der Bachwoche haben diese Predigt offenbar schon hinter sich. Bei ihrer Probe regieren gute Laune und Sabine Layer, die versucht, Sätze von Buxtehude, Bach und Mendelssohn bis zum Abschlussgottesdienst zu homogenem Klingen zu bringen „Wir haben nur eine Chance“, muntert sie ihre Truppe auf, und: „Sie sind so kurz vor richtig gut!“ Lautstarke Zustimmung aus der letzten Reihe im Saal. Da ist er, der Chef höchstpersönlich, eilt nach vorne und lobt die Arbeit an der Basis. „Das, was ich gehört habe, war ganz toll“, sagt Hans-Christoph Rademann. Die Sänger strahlen. Aha: Auch Glück kann also den Geist verwirren.

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