Irene Ferchl erinnert auch an vergessene Autoren. Foto: privat

Die Buchautorin Irene Ferchl stöbert auf den Spuren einstiger und aktueller Literaten durch Stuttgart. Goethe lobte „die schönsten Alleen“. Casanova pries den Hof Carl Eugens als „den glänzendsten ganz Europas“.

S-Mitte - Zu Zeiten des Eduard Paulus wäre dieses Buch womöglich als überflüssig empfunden worden. „Königstraße, meine Wonne“ – so begann der 1837 geborene Poet eines seiner Gedichte. Paulus schrieb nieder, wer mit ihm auf der Prachtstraße Stuttgarts flanierte: Novellen- und Versschreiber, mancher mit einer zerknüllten Rezension des jüngsten Werkes in der Hand, die Redakteure, die den Verriss verfassten, samt ihrer aller Verleger. „Wir sind das Volk der Dichter“, schloss der Dichter.

Den Spuren dieses Volkes stöbert die Autorin jenes Buches nach, Irene Ferchl, und in der heutigen Stadt der Automobilbauingenieure und Achsokreativklamottenhändler scheint dies nicht überflüssig, sondern überfällig. Wohl spiegeln das Hegelhaus oder die Schiller-Statue den einstigen Glanz der Schriftstellerei. An so viele andere erinnert aber allenfalls eine Plakette oder Tafel. Viel mehr ist selbst Mörike der Stadt nicht wert, in der er lehrte – am Königin-Katharina-Stift – und bestattet wurde, auf dem Pragfriedhof. Beispielhaft für die ganz Vergessenen sei Tony Schumacher genannt, die zwischen 1875 und 1923 in Stuttgart 34 Kinder- und Jugendbücher schrieb, eine Millionenauflage erreichte und mehr als 30 000 Lobesbriefe hortete.

Ringelnatz: Schönes Stuttgart, „Scheißmünchen“

Davon abgesehen, ist es der Autorin ein Herzensanliegen, des Literatentums zu gedenken. Ferchl gründete 1993 das Literaturblatt für Baden-Württemberg und leitet es noch immer. Jahrelang war sie Vorsitzende des Vereins, der das Schriftstellerhaus an der Kanalstraße betreibt, bis im Mai vergangenen Jahres Ingrid Bussmann das Amt übernahm, die ehemalige Leiterin der Stadtbibliothek.

75 Namen des Literaturbetriebs hat Ferchl Orten zugeordnet, Namen der klassischer Weltliteratur genauso wie der zeitgenössischen Schriftstellerei nebst lokaler Größen. Namen von Dichtern, die in Stuttgart lebten, genauso wie von solchen, die es nur streiften. Jedem widmet sie ein kurzes Kapitel, im Schnitt zwei Seiten lang. Wer mag, kann ihr „Erzählte Stadt“ benanntes Buch im Sinne eines Reiseführers für einen literaturgeschichtlichen Stadtspaziergang verwenden. Und dabei womöglich seine Heimatstadt mit anderen Augen sehen. Mit denen von Ringelnatz zum Beispiel, der über seinen Aufenthalt schrieb: „Stuttgart ist schön, gegen dieses Scheißmünchen ein Paris.“ Ansonsten vermerkte das Tagblatt zu den Lesungen des trinkfesten Humoristen, sie „gaben keinen Grund zu sittlicher Entrüstung“. Es sei denn für die Münchener. Es waren viele, die die heute als piefig verpönte Schwabenstadt liebten, und nicht wenige darunter waren Große.

Goethe lobte „die schönsten Alleen“

Der Frühmorgenspaziergänger Goethe lobte „die schönsten Alleen“. Casanova pries den Hof Carl Eugens als „den glänzendsten ganz Europas“. Ludwig Börne schwärmte: „Es ist schon viel Wienerische Sinnlichkeit hier. Auch viel südländische Lebhaftigkeit“. Verschwiegen sei nicht, dass Jean Paul Stuttgart hasste, Arthur Rimbaud mitteilte, alles hier sei minderwertig, mit Ausnahme des Rieslings.

Neben den nackten Tatsachen und Daten erliest sich der Literaturspaziergänger derlei Anekdoten gleichsam im Vorbeischlendern. Was zeitgenössische Prosa betrifft, gehört zu denen, dass Anna Katharina Hahn während ihres Studiums in Stuttgart das heimliche Rauchen kultivierte, was ihr Mann heute noch verflucht, oder dass Felix Huby eine Leidenschaft für die Sünderstaffel hegt. Auch dass, nach Auflage gemessen, zu den erfolgreichsten Schriftstellern Stuttgarts Manfred Rommel zählt, kann wohl nicht den kahlen Fakten zugeordnet werden. Die knitzen Anekdoten des verstorbenen Alt-Oberbürgermeisters wurden millionenfach gekauft.

Derlei teilt die Kulturjournalistin Ferchl in einer Lesbarkeit mit, die sich wohltuend abhebt von etlichen anderen Schreibern lokal verankerter Bücher, deren Formulierungskunst sich in der Frage erschöpft, ob ihre Adjektivaufmärsche mit einem oder drei Ausrufezeichen zu dirigieren sind. Obwohl doch, dem Anliegen gemäß, Ferchl einen Tropfen Wehmut oder einen Schuss Sehnsucht auf ihre Seiten hätte fließen lassen dürfen. Das fehlt, aber welche Auflage sie erreichen wird, ist ohnehin keine Frage des Satzbaus, sondern eine danach, wer sich für ihr Thema noch interessiert.