Sie sitzen in Autos und sagen schöne, traurige Sätze über die Liebe: Szene aus „Stadion der Weltjugend“ mit Julischka Eichel, Christian Schneeweiß und Martin Wuttke Foto: Conny Mirbach

Warum es absolut sehenswert ist, Ex-„Tatort“-Kommissar Martin Wuttke und Ensemblemitglieder des Schauspiels Stuttgart zuzusehen, wie sie zwischen parkenden Autos und den Beinen einer monströs großen Gummipuppe über die Liebe und die Kunst nachdenken.

Kornwestheim - Sie kommen aus der Tiefe des Raums. Fünf Gestalten in lila Robe, gelbem Kampfanzug, karierten Anzügen, einer trägt Smoking mit Fliege. Als hätten Besucher einer Kostümparty das Fest verlassen und irrten, vom Weg abgekommen, in einer Industriebrache umher. Doch nein, sie marschieren auf ein Auto zu, ein Chrysler mit offenem Verdeck. Los geht’s. Keiner spricht, die hinten sitzen, drehen sich gelegentlich besorgt um.

Eine Verfolgungsjagd, aber nicht in Kornwestheim, sondern San Francisco. Nach zwei, drei Minuten fahren sie an einem explodierenden Wagen vorbei. Die Videoabteilung des Staatsschauspiels Stuttgart hat die Schauspieler in die Kulissen eines Autofilms gemogelt: „Bullitt“ mit Steve McQueen. Was insofern schlüssig ist, da der Spielort - das Autokino Kornwestheim - 1969 mit diesem Film eröffnet wurde. Dass die letzte Premiere der Saison, René Polleschs „Stadion der Weltjugend“, am Freitag dort stattfand, ist eine interessante Notlösung, da wegen weiterer Renovierungsarbeiten der Bühnentechnik das Schauspielhaus bereits geschlossen ist.

Die Figuren landen in einem Autokino, und die Zuschauer beobachten sie bei ihrer Flucht vor sich selbst, bei ihren Identitätsproblemen, bei ihrer Sehnsucht nach einem festen Halt im Leben. Das ist witzig, wenn die Sirene aus der Polizeisatire „Die nackte Kanone“ auf der Leinwand blinkt und die Darsteller kopflos übers Gelände irren; cool, wenn sich Julischka Eichel wie Uma Thurman in „Kill Bill“ in einer Fluchtszene trotz lahmer Beine in ein Auto wuchtet. Das dominierende Zitat ist aber „Stage Beauty“. Der Film handelt in England in einer Zeit, in der nur Männer auf der Bühne spielen durften und manche Darsteller sich auf die Verkörperung von Frauenfiguren spezialisierten. Als auch Frauen Spielerlaubnis erhielten, wurden diese Frauenmänner überflüssig. Tolles Thema, um wie so oft in Stücken von René Pollesch Gedankengirlanden zu winden über das Wesen des Spiels, über Echtheit, Künstlichkeit, Rollenzuschreibungen, Geschlechterrollen.

Während also die Livekameraleute (Ute Schall, Tobias Dusche, Daniel Keller) die Schauspieler filmen und Bilder auf die Großleinwand übertragen, lamentiert der Mann im Smoking (Martin Wuttke), eine Menge Kajal um die Augen bemalt, über das Ende seiner Karriere als „berühmter Frauendarsteller des 17. Jahrhunderts“. Es ist ihm gleich, dass ihn Abak Safaei-Rad und Manuel Harder loben, wenn sie nicht gerade etwas übereifrig über heterosexuelle Liebe, Realitätsverlust oder die unmögliche Nähe zum Anderen schwadronieren.

Spiel mit Identitätskrisen

Die Darsteller wirken, als blickten sie immer in einen leeren Spiegel, strauchelnd beim Versuch, dem eigenen Schatten auf die Füße zu treten. Christian Schneeweiß gelingt es fabelhaft, immer ein bisschen neben sich zu stehen, begriffsstutzig zu schauen und etwas zu fragen, das sich manch ein Zuschauer schon öfter gefragt hat: „Wo ist denn die Epoche hin, in der man etwas spielte, was man nicht ist. Das war doch mal der Sinn davon, jemandem etwas vorzuspielen. Warum plötzlich diese Angst, diese Unsicherheit.“ Doch es ist vor allem der prominente Gast im Stuttgarter Ensemble - Martin Wuttke —, der immer wieder über seinen Beruf jammert. „D A S waren noch Zeiten. Als man sich nicht immer selber spielen musste!“, behauptet er trotzig und dass er „zum alten Eisen“ gehöre: „ich bin eine Antiquität, aus der Mode. Ich bin ein Anachronismus“. Damit kommentiert er die fast schon altbackene Mode, Schauspieler dauernd aus ihren Rollen aussteigen zu lassen sowie seinen Status als Ex-„Tatort“-Kommissar. Wer mag, sieht darin auch eine Kritik an Chris Dercon. Dem designierten Leiter der Berliner Volksbühne wird unterstellt, an dem Ort, an dem René Pollesch viele Abende auch mit Martin Wuttke inszeniert hat, aufs Spielen und auf Schauspielgrößen künftig eher weniger Wert zu legen als sein Vorgänger Frank Castorf.

Dieses Identitätskrisenspiel ist bei Martin Wuttke, diesem Männlichkeitsdarsteller und berserkerhaften Arturo-Ui-Veteranen anrührend und von leiser Melancholie überzogen: „Männer sind einfach nicht schön und fühlen viel zu viel“ sagt er und mault übers Altwerden: „Kaum die Pubertät überstanden und schon ist man leicht angegammelt“.

Pollesch, weniger wild als sonst

Die Inszenierung ist weniger wild als die bisherigen Stuttgarter Pollesch-Abende - vielleicht auch wegen des besonderen Spielorts. Open-Air sind die technischen Möglichkeiten eingeschränkt, und die Darsteller sitzen häufig einfach nur im Auto (was bei Regen den Spielbetrieb sichern könnte), wenn sie sich nicht auf einer monströsen aufblasbaren Puppe räkeln und auf ihren Theoriebatzen von Michel Foucault und anderen Philosophen hin- und herkauen, schöne, traurige Sätze über die Liebe sagen: „Die Liebe kriecht in einen, frisst einen leer, du hast wirklich Schmerzen, es zerreißt einen in Stücke.“

Dass man die Darsteller fast nur auf der Leinwand sehen kann, aber ihnen doch nicht nahe kommt, geht einem nahe. Und doch passt diese formale Beschränkung zum Thema des Abends, dieser unbefriedigten Sehnsucht nach Intimität. Zwar geht die Jugend ins „Stadion der Weltjugend“ genannte Autokino womöglich auch, um zu knutschen sich zu berühren. Letztlich aber ist so eine Parkplatzwüste im Industriegebiet mit seinen Imbissbuden kaum mehr als ein prosaischer, pseudoromantischer, ja trostloser Nicht-Ort. Auch der Zuschauer, der sich zunächst gefreut haben mag, keine mit Bonbonpapier knisternden Nebensitzer zu haben, spürt wie die Figuren bei Pollesch dann doch eine unstillbare Sehnsucht nach dem Anderen, nach dem mit anderen geteilten Live-Erlebnis eines Theaterabends. Und so ist das fröhlich aufgeregte Hupkonzert als Applaus auch ein die anderen Premierengäste anhupendes Gemeinschaftserlebnis-Geräusch. Dazu viele Lichthupen, die den vor Autos spielenden und nun sich verneigenden Schauspielern anstrahlen und sagen: Hey Leute, Ihr seid nicht allein da draußen in der dunklen Tiefe des Raums.

Falls noch gewünscht:

INFO: Weitere Vorstellungen: 7.-9., 14.-16., 21.-23. Juli, Beginn: 21.30 Uhr, Einlass: 20.30 Uhr im Autokino Kornwestheim, Tonübertragung via Autoradio (auch Radios können ausgeliehen werden)

Es gibt eine Mitfahrbörse auf Facebook: facebook.com/schauspielstuttgart, ein Auto ist zum Besuch der Vorstellung aber nicht zwingend, es stehen auch Stühle bereit.

Weitere Infos: www.schauspiel-stuttgart.de