Die Schuhfabrik Haueisen wurde zum Lazarett umfunktioniert. Foto: Stadtmuseum

In Stuttgart grasten noch die Pferde, da haben in Bad Cannstatt schon römische Ärzte operiert. Die Wiege der hiesigen Heilkunst lag am Neckar. In dem Kurort ließen sich Adel und Künstler behandeln, hier verschrieb man sich bereits vor 170 Jahren der Homöopathie.

Stuttgart - Die Heiligen waren mit Bedacht gewählt. Um 800 wurde in Cannstatt die Stadtkirche gebaut, sie wurde Kosmas und Damian geweiht. Den Patronen der Ärzte und Apotheker. Man wusste damals bereits um die Heilkraft der Quellen. 1749 ging die Kunde in die Welt hinaus, als Johann Albrecht Gaßner schrieb: „Es scheint, als hätte die Natur allhier allen ihren Vorrath von mineralischen Wassern auf einmahl ausschütten wollen.“ Die Menschen kamen zum Kuren, sie suchten Linderung bei aller Art Krankheiten. Das Stadtmuseum zeichnet nun in einer Ausstellung den Weg Bad Cannstatts zu einer Wiege der Heilkunst nach.

Heines Orthopädie-Anstalt

Jakob Heine war der Sohn eines Gastwirts aus Rottweil. Er studierte Theologie, eiferte dann aber seinem Onkel nach, einem Orthopäden. 1929 gründete er eine fachärztliche Praxis für Orthopädie. Er war so erfolgreich, dass er in die Badstraße umzog und die Klinik wuchs und wuchs. 34 Patienten-Zimmer, Gymnastikhalle, Bäder, ein großer Garten im Bereich der heutigen Bahnhofstraße zählten zu dem Komplex. Und das Sulzbad, dessen Schlamm er von Schaufelrädern aufwühlen ließ. Er operierte, wandte Streckapparate an, setzte aber auch auf Bäder und Gymnastik. Heine war einer der Mitendecker der Spinalen Kinderlähmung. Er starb 1879, sein Grab ist auf dem Uff-Kirchhof. Weil sein Sohn Karl Wilhelm früh gestorben war und sich kein Nachfolger fand, wurde die Klinik ein Hotel. 1944 wurden die Gebäude zerstört.

Das Veiel’sche Vermächtnis

Noch heute ist die Stuttgarter Hautklinik in Bad Cannstatt. Dies ist das Erbe von Albert Veiel. Er gründete im Jahr 1837 in Cannstatt die „Heilanstalt für Flechtenkranke“, die erste Hautklinik Deutschlands. Veiel hatte Medizin an den Universitäten Tübingen und Paris studiert, und erkannt, dass das Cannstatter Wasser innerlich und äußerlich angewandt Wunder wirkte. Sein Sohn Theodor übernahm später die Leitung der Klinik und wurde zudem Chefarzt des 1881 eröffneten Cannstatter Bezirkskrankenhauses, das 1905 der Stadt Stuttgart zugeordnet wurde. Theodor Veiel war von 1913 bis zu seinem Tode 1923 auch Präsident der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft.

Berühmte Patienten

Aus ganz Europa kamen die Heilsuchenden nach Cannstatt. So auch die russische Prinzessin Gagarin, ein Mitglied des europäischen Hochadels. Ihre erwachsene Tochter war von einer üblen Hautkrankheit geplagt. Von St. Petersburg reisten sie zum berühmten Hautarzt Albert Veiel. Dort genierte sich die Tochter sich „frei zu machen“. Mutter und Tochter diskutierten, zeterten und stritte. Schließlich wurde die Mutter handgreiflich, riss der Tochter das Kleid herunter und rief auf Französisch: „Ein Arzt ist kein Mann!“ Aufsehen erregte auch, dass der Schriftsteller Edward Bulver-Lyton nach Cannstatt gereist war. Die Gazetten überschlugen sich. Denn Bulver-Lyton war ein Popstar. Sein Roman „Die letzten Tage von Pompeji“ war ein Bestseller. Der Grund seiner Reise: Er besuchte Tochter Emily, die bei Heine in Behandlung war. Sie litt an den Folgen einer Kinderlähmung. Ihren Briefen in die Heimat kann man entnehmen, dass sie in die Oper und in Konzerte ging, Unterricht in Deutsch, Tanz und Musik hatte – und dass sich ihr Rückenleiden besserte.

Tritschler, Kepler und Co.

Die Familie Tritschler hatte sich der Medizin verschrieben. Vater Johann Christian Salomon Tritschler war seit 1818 Oberamtsarzt in Cannstatt , seine drei Söhne traten in seine Fußstapfen. Der jüngste, Theodor, gründete in der Badstraße eine Heilanstalt. Dort ließ sich auch ein gewisser Paul von Fels behandeln. Es war in Wahrheit Paul von Thurn und Taxis, dessen Freundschaft mit dem bayerischen Märchenkönig Ludwig, seiner Familie zu innig geworden war. Er wurde verstoßen.

Theobald Kerner war der einzige Sohn von Justinus Kerner. Ludwig Uhland war sein Taufpate. Kerner war ein Demokrat, saß deshalb zehn Monate auf dem Hohenasperg im Gefängnis. Er gründete 1851 in der Badstraße eine galvanisch-magnetische Heilanstalt. Mit elektrischen Bädern versuchte er den Patienten bei Ischias, Rheuma, Kopfschmerzen, aber auch Hysterie und Schlaflosigkeit zu helfen. Er behandelte sogar König Wilhelm I., der ihn einstmals ins Gefängnis gebracht hatte.

Eine andere Methode wählte Henriette von Seckendorff-Gutend. Sie heilte von 1868 an durch Gebete und Handauflegen.

Die Apotheker

Was ist Arznei? Und was Droge? Die Sicht der Dinge ändert sich im Laufe der Jahrhunderte. Schön zu sehen an einem Ausstellungsstück, der Morphiumwaage der Kronen- Apotheke. Doch neben dem Schmerzmittel, das aus Opium gewonnen wird, hatten die Cannstatter Apotheken auch Homöopathisches im Angebot. Königin Olga war Kundin bei Virgil Mayer und gestattete ihm 1881 sein Geschäft in eine „Homöopathische Centralapotheke“ umzuwandeln. Nun durfte er Medikamente auch gegen Rezept abgeben. Mayer förderte die Homöopathie nach Kräften, sein Sohn Hermann führte das Werk fort. Mit seinem Versandhandel gewann er Kunden auch in Übersee, die Hausapotheke mit 63 Mitteln in Streukugelform war ein Verkaufsschlager.

Die Kronen-Apotheke öffnete bereits 1638. Unter Gustav Obermiller wurde auch sie 1884 „Homöopathische Central-Apotheke“. 1977 eröffnete sie wieder in einem Neubau. Beim Ausräumen der alten Apotheke fand man zahlreiche Gegenstände und Mittel, die jetzt in der Ausstellung zu sehen sind.

Die Industrie

Cannstatt entwickelte sich rasch zum Zentrum der Medizin-Industrie. Die Firma Haaga stellte Apparate und Geräte zur Wundbehandlung her. Rüsch hatte sich auf Katheter spezialisiert. Sie war Ende des 19. Jahrhunderts, so würde man heute sagen, der Weltmarktführer. Theinardts Nährmittelgesellschaft stellte die Kraftnahrung „Hygiama“ für Sportler her und „Infantina“, ein Zusatz zur Säuglingsmilch. Die Medizin-Zeitschrift „Lancet“ schrieb, man müsse deren „Vortrefflichkeit besonders hervorheben“.

Die Lazarette

Im Winter 1916 beschrieb ein Chronist: „Tagsüber ist im Straßenverkehr die große Zahl an Verwundeten auffallend, die in vielen Lazaretten untergebracht sind.“ Die verletzten Soldaten wurden im Kursaal, im Leuze, im Städtischen Krankenhaus, in der Schuhfabrik Haueisen behandelt. Es gab gar ein Pferdelazarett in der Artilleriekaserne. Im Kurgarten pflanzte man Kartoffeln und baute einen Schweinestall.

Die Ausstellung „Ein Arzt ist kein Mann!“ wird bis zum 30. Oktober im Stadtmuseum Bad Cannstatt, Marktstraße 71/1, gezeigt. Sie ist mittwochs von 14 bis 16 Uhr, samstags von 14 bis 17 Uhr und sonntags von 12 bis 18 Uhr geöffnet.