Die etwas andere Wohnkultur: Erichs Zuhause ist eine Höhle in einem Stadtteil von Granada und da fühlt er sich richtig wohl. Foto: Wagner

Mit Spanien geht es angeblich wieder bergauf. Doch die Arbeitslosigkeit bleibt ein Problem. Manche wählen sie aus eigenen Stücken. Unser Autor hat einen deutschen Aussteiger getroffen.

Mit Spanien geht es angeblich wieder bergauf. Doch die Arbeitslosigkeit bleibt ein Problem. Manche wählen sie aus eigenen Stücken. Unser Autor hat einen deutschen Aussteiger getroffen.

Granada - Erich schüttelt den Kopf. Schon wieder haben sie irgendeinen Unsinn gebaut, unten in der Stadt. „Diese Straßenbahn braucht doch kein Mensch“, wettert er und zeigt auf das Bild eines leeren Tunnels, in dem Bauarbeiter stehen. Seit Jahren baue die Stadt nun schon, um in Granada den öffentlichen Nahverkehr zu stärken. Immer wieder fehlten Gelder, immer wieder verschiebe sich der Bau. Erich, der seinen Nachnamen nicht in der Zeitung lesen will, schlürft an seinem Kaffee und diskutiert mit seinem Freund Juan. Den Spanier hat er in diesem Café kennengelernt, wo er beinahe jeden Tag verbringt.

Der Milchkaffee und das geröstete halbe Brötchen mit Käse und Schinken sind sein morgendliches Ritual. Erich kann es sich leisten – auch ohne festes Einkommen. In Deutschland, sagt er, könnte er nicht jeden Morgen in ein Café gehen. „Da ist das doch viel zu teuer.“ Erich nimmt seinen letzten Schluck Kaffee und macht sich an die Arbeit. Mit einer Stimme, die von jahrzehntelangem Whiskey- und Tabakkonsum erst so richtig komplett geworden ist, singt er Blues-Klassiker. Das ist nicht die Flamenco-Musik, die in Granada an jeder Ecke ertönt. „Ich habe eben den Blues im Blut, also spiele ich das auch.“ Auf dem Marktplatz hat er seinen Stammplatz. Ein Mann kommt und drückt ihm eine Zwei-Euro-Münze in die Hand. Sie plaudern.

15 Jahre war der Heidelberger alt, da zog es ihn in die Welt hinaus. In einer Nacht-und- Nebel-Aktion brach er auf, um als Schiffsjunge anzuheuern. „Weil ich keinen Bock hatte auf eine Kochlehre“, erzählt er. Irgendwann wurde ihm das zu langweilig, und er kehrte zurück. Gitarre spielen konnte er gut. „Music was my first  love“,  zitiert er den Song von John Miles und grinst. Also baute er sich eine Existenz als Musiker auf, spielte Stücke in Studios ein, gründete eine Band und trat sogar als Vorgruppe der Ostrockband Puhdys auf.

Man kennt ihn als gitarrespielenden Bettler

Irgendwann wurde ihm auch das zu langweilig. Erich beschloss, ein zweites Mal loszuziehen. Diesmal auf Rundreise durch Spanien, als Straßenmusiker. Irgendwann lernte er Menschen kennen, die in Granada auf dem Hügel Sacromonte lebten. In Höhlen. Erich wurde neugierig und besuchte sie. Das ist 18 Jahre her. Er kam, um zu bleiben.

Als gitarrespielenden Bettler kennt man ihn. Kaum einer weiß aber, wo er eigentlich wohnt. Zur Mittagszeit wandert er zurück zu seiner Höhle, der Fußmarsch dauert eine Stunde. Auf dem Weg kommt Erich an einer Wandmalerei vorbei, die sein Abbild zeigt, in Lebensgröße. Er deutet darauf und zeigt sein Zahnlückenlächeln: „Hier kennt mich jeder.“

Auf dem Weg, vorbei an Pinienbäumen, wenn die Stadt langsam zur Vorstadt wird und die Vorstadt zum Dorf, werden die Häuser langsam zu Höhlen, und die Höhlen langsam zu Löchern im Fels, die nur über unwegsame Pfade zu erreichen sind. Touristen verirren sich nur selten in die hintersten Ausläufer des Sacromonte. „Es gibt hier schon auch finstere Ecken“, sagt Erich. Etwa auf der anderen Seite des Hügels, der an die Innenstadt grenzt. Dort gibt es Höhlen, deren Eingänge mit Müllsäcken verbarrikadiert sind. Wer dort entlanggeht, trifft auf skeptisch schauende illegale Flüchtlinge aus Somalia. In ihrer direkten Nachbarschaft wohnen reiche Bürger Granadas.

Die meisten Höhlen gehören der Stadt

Die meisten Höhlen gehören der Stadt

Seit Jahrhunderten nutzen die Andalusier die Höhlen in den Ausläufern der Sierra Nevada als Unterschlupf. Die wenigsten Höhlen sind in Privatbesitz. Sie können schon mal Hunderttausende Euro kosten und mit Flachbildfernsehern und Whirlpools ausgestattet sein. Die meisten Höhlen – immerhin bieten sie eine Fläche von rund 25.000 Quadratmetern – gehören der Stadt. Die sieht es nicht gern, wenn sich Fremde einquartieren. „Der Verwaltung geht es nur ums Geld“, schimpfen die illegalen Bewohner.

Auf dem Rathaus von Granada sieht man das anders. „Wir führen immer wieder Inspektionen durch und mussten feststellen, dass viele der Höhlen einsturzgefährdet sind“, teilt eine Sprecherin mit. Außerdem würden die sanitären Einrichtungen zu wünschen übrig lassen. „Es ist unsere Pflicht als Eigentümer dieser Immobilien, sie im erforderlichen Maße zu pflegen“, sagt sie.

Seit 2005 geht die Stadt systematisch gegen illegale Höhlenbewohner vor, viele Eingänge wurden mit Hilfe von Baggern blockiert. In regelmäßigen Abständen versuchen die Mitarbeiter der Verwaltung, die Bewohner aus den Höhlen zu vertreiben. Mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg.

Von seiner Höhle aus hat Erich einen märchenhaften Blick auf die Alhambra

„Wir scheißen schon seit Jahren in Plastiktüten“, schimpft Willi. „Und die sagen, wir würden hier die Gegend verschmutzen!“ Der Tiroler mit der Knollennase und den treuen Augen wird aggressiv gegenüber den spanischen Polizeibeamten, wenn er sich an deren ständige Besuche erinnert. Er ist Erichs bester Kumpel und wohnt ein paar Meter entfernt in einer modrig-feucht riechenden Höhle. Auf dem Heimweg schaut Erich fast immer bei ihm vorbei. Willi versteht die Stadtverwaltung nicht. Über 40-mal sei er in zehn Jahren heimgesucht worden, sagt er.

Auch Erich wohnt illegal in Granada. Als er vor 18 Jahren kam, suchte er sich ein freies Loch in einem Hügel aus. In Erichs Höhle riecht es nach Schweiß und Tabak. Duschen kann er nur an einem Brunnen bei einer nahe gelegenen Kirche. Das Wasser ist kalt, im Sommer wie im Winter.

Auf der Terrasse vor Erichs Höhle stehen leere Bierflaschen, daneben liegen alte Ausgaben des „Spiegels“. Von hier aus hat er einen märchenhaften Blick auf die Alhambra. „Viele Leute denken, dass es toll ist, eine solche wahnsinnige Aussicht zu haben, aber für mich ist das ganz normal“, sagt er. „Die Burg ist doch eh allgegenwärtig. Sie ist der Kopf des Geistes, der die Menschen verhext, die einmal nach Granada gekommen sind“, sagt er und lacht, weil er es selbst nicht glaubt.

Am Abend sind Willi und Erich bei Maria zu Besuch. Maria Terremoto – das Erdbeben –, so wird sie von Erich genannt. Das liegt nicht nur an ihrem Temperament. Auch ihre Stimme klingt wie das Grummeln der Erde selbst, wenn sie jungen Männern aus der Nachbarschaft wild um den Hals fällt und sie herzlich mit nassen Küssen auf die Wangen begrüßt. Maria hat Geburtstag. Sie lädt zu einer Feier ein, es gibt eingelegte Oliven und Wein aus dem Tetrapak. Die Höhlenbewohner brauchen in der Regel kein Geld für Lebensmittel. Einmal in der Woche geht es auf den Großmarkt. Das Obst und Gemüse, das die Händler aussortieren, ist meistens noch frisch. Die gesamte Nachbarschaft freut sich über die Gratisversorgung.

Je weiter der Abend voranschreitet, desto mehr Alkohol fließt

Auf dem Sacromonte ist es inzwischen Abend geworden. Die Sonne hat sich hinter der Sierra Nevada verzogen, die Alhambra leuchtet in der Dämmerung wie eine Fata Morgana in der lauen andalusischen Luft. Von weitem ist das Plätschern eines Bachs zu hören. Aus Erichs Höhle dröhnt Rock’n’Roll-Musik. „Die Akustik hier drin ist viel besser als in den Studios in Deutschland“, schwärmt er. Kaktus Party heißt die Band, die er mit ein paar Freunden zum Spaß gegründet hat. Weil ständig jemand in die mannshohen Kakteen vor Erichs Höhle fällt. Rock’n’Roll in einer Höhle? Erich lacht. „Wir haben hier alle Solaranlagen, die wir an Autobatterien anschließen. Die hat mal einer mit dem Auto in Portugal besorgt.“ Kostenlos, in einer Nacht-und-Nebel-Aktion, versteht sich. Erich hat so den nötigen Strom und macht Musik.

Je weiter der Abend voranschreitet, desto mehr Alkohol fließt. Erich, Willi und Maria vergnügen sich mit ihren Nachbarn. Sie haben kein Geld, ihren Spaß lassen sie sich aber nicht nehmen. Vor der Höhle, im Schein einer Taschenlampe, singt eine junge Amerikanerin mit zarter, fast schon zerbrechlicher Stimme. Das Publikum, amerikanische Touristen, die Erich auf der Straße angesprochen hat, hört gebannt zu. „Musik verbindet. Sie baut Brücken, und das ist etwas Tolles. Ich lerne Leute aus der ganzen Welt kennen.“ Alle lachen, als Maria Terramoto sturzbetrunken aus der Höhle torkelt und mitgrölt. Es wird spät an diesem Abend.

Am nächsten Morgen sitzen Erich und Juan wieder im Straßencafé. Erich trinkt seinen Kaffee mit Milch und isst seinen Toast. Juan liest aus der Zeitung vor. Eine neue Straßenbahn wird gebaut. Erich regt sich auf. Ein unnötiges Bahnprojekt sei das, sagt er. Aus der Höhlenperspektive.