Das Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen forscht nahc anhaltender Kritik von Tierschützern nicht mehr an Affen. Foto: dpa

Das endgültige Aus der Affenversuche in Tübingen zeigt: Die Wissenschaft muss stärker als bisher ihre Methoden offenlegen, Beweggründe erklären und glaubhaft dem Verdacht begegnen, etwas verbergen zu wollen, schreibt unser stellvertretender Chefredakteur Wolfgang Molitor in seinem Kommentar.

Stuttgart/Tübingen - Sie versucht das Unmögliche: Die Allianz der Wissenschaftsorganisationen, ein Zusammenschluss der bedeutendsten Wissenschafts- und Forschungsorganisationen Deutschlands, setzt auf mehr Verständnis für Tierversuche. Auf einem Video infiziert eine Tierärztin des Leibniz-Instituts für Naturstoff-Forschung in Jena Nagetiere per Spritze mit Candida-Pilzen. Das sind Hefepilze, die natürlicherweise auch im Menschen vorkommen. Ist die Abwehr geschwächt, etwa bei Patienten auf Intensivstationen, kann sich der Pilz unkontrolliert im Blut ausbreiten und Leben bedrohen. Um die Infektion früh erkennen und behandeln zu können, müssen Forscher verstehen, wie Pilze, Bakterien und Wirt zusammenwirken. Die Versuche, die die Jenaer Tierärztin mit den Mäusen macht, helfen dabei, Menschenleben zu retten.

Doch die Ablehnung gegen solche Versuche ist groß, nicht zuletzt weil Aktivisten laut und mit brutalen Bildern von Gehirn-Implantaten und blutverschmierten Köpfe gegen Tierversuche protestieren. Und sich manche Mythen halten, etwa dass Tierversuche in der Kosmetika-Entwicklung eingesetzt werden (seit 1998 durch das deutsche Tierschutzgesetz verboten) oder Experimente an Menschenaffen durchgeführt werden (den letzten Versuch an Hominiden in Deutschland gab es 1991). Die Folge: Jetzt gibt auch das Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen der provozierenden und nicht selten überzogenen Kritik nach und stellt seine Affenversuche komplett ein. Der Verein Soko Tierschutz nennt das einen historischen Erfolg – obwohl auch die letzten beiden Versuchsaffen im europäischen Ausland gelandet sein dürften.

Laut Bundesagrarministerium wurden 2015 rund 2,8 Millionen Tiere für wissenschaftliche Zwecke verwendet. Nach Angaben des Vereins Ärzte gegen Tierversuche gab es mit 462 000 Tieren die meisten Versuche in Baden-Württemberg, gefolgt von Nordrhein-Westfalen mit 432 006 und Bayern mit 423 129 Tieren. Der Begriff Tierversuch schließt Blutentnahmen ebenso ein wie operative Eingriffe oder Arzneimitteltests. Fast 755 000 Versuchstiere wurden 2015 in Deutschland für wissenschaftliche Zwecke getötet. Insgesamt 3141 Affen und Halbaffen wurden in Tierversuchen verwendet, das sind 0,1 Prozent aller Versuchstiere.

Wer Menschenleben retten will, darf Tierversuche nicht verteufeln

Die Behörden der Länder müssen die Arbeit von öffentlichen Hochschulen oder Forschungseinrichtungen, die biomedizinische Forschung betreiben, prüfen und genehmigen. Denn das deutsche Tierschutzgesetz erlaubt die Grundlagenforschung sowie Forschungen zur Vorbeugung von Krankheiten (etwa Diabetes und Krebs) bei Menschen oder Tieren. Hinzu kommt die Entwicklung und Herstellung sowie Prüfung der Qualität, Wirksamkeit oder Unbedenklichkeit von Arznei-, Lebens- und Futtermitteln.

Kaum ein Wissenschaftszweig hat so viel Einfluss auf das menschliche Wohlergehen wie die biomedizinische Forschung. Und ja: Kaum ein anderer trägt eine so große ethische Verantwortung – auch weil sich die Forschung nicht immer durch Zellkulturen oder Computermodelle ersetzen lässt, Tierversuche aber trotzdem nach Möglichkeit vermieden, ihre Anzahl verringert oder, wo unvermeidbar, unter größtmöglicher Schonung durchgeführt werden müssen.

Auch der Tübinger Rückzug zeigt: Die Wissenschaft muss stärker als bisher ihre Methoden offenlegen, Beweggründe erklären und glaubhaft dem Verdacht begegnen, etwas verbergen zu wollen. Und die Gesellschaft wird akzeptieren müssen, dass Biomedizin unverzichtbar ist. Wer Menschenleben retten will, darf Tierversuche nicht verteufeln.

wolfgang.molitor@stuttgarter-nachrichten.de