Objekt der Begierde und des Streits: die Berliner Volksbühne Foto: dpa-Zentralbild

Spät kommt er, doch er kommt: In der Berliner Szene formiert sich Widerstand gegen Chris Dercon, der als Nachfolger von Frank Castorf die Volksbühne übernehmen soll.

Stuttgart - Es gibt eine Sportart, in der Österreich unschlagbar ist. Kein Land der Welt kann sich in dieser Disziplin mit der Alpenrepublik messen: Wenn am Burgtheater in Wien der Haussegen schief hängt, ist die Erregung so gewaltig, dass die Adrenalinwellen auch durchs Kanzleramt am Ballhausplatz fluten und die Kunst zur Haupt- und Staatsaktion wird. Deutschland kann da nicht mithalten. Bei uns ist der Hormonausstoß bei Kunstquerelen traditionell geringer als im Nachbarland, wobei das, was sich derzeit in Berlin tut, schon auch sehen lassen kann. Auf Burgniveau erregt sind: das rote Rathaus, der alte Peymann und die anarchisch verstrubbelte Volksbühne, um deren Zukunft es geht.

Was bereits geschah: Als vor einem Jahr bekannt wurde, dass der Berliner Senat die Intendanz von Frank Castorf an der besagten Volksbühne nicht über 2017 hinaus verlängern werde, erreichte die Erregungskurve einen ersten Höhepunkt. Den Zampano nach 25 Jahren ziehen lassen? Das konnten und wollten sich viele, allen voran der Betroffene selbst, nicht vorstellen, schließlich hat das nicht zu zähmende Theatertier Castorf das Haus als einzigartig stilbildende Kraft in der Theaterlandschaft profiliert. Aber es kam noch schlimmer, denn als Nachfolger des sperrigen Castorf wurde der nicht ganz so sperrige Chris Dercon installiert, der zuerst das Münchner Haus der Kunst, dann die Tate Modern in London geleitet hat. Kein Theaterkünstler also, sondern ein Museumskurator, von dem man befürchtete, er werde das wie ein Panzerkreuzer am Rosa-Luxemburg-Platz liegende Haus zu einer nichtssagenden und austauschbaren „Eventbude“ ummodeln – so jedenfalls sah es Claus Peymann, Intendant des Berliner Ensembles, der damit einem Großteil der Kulturszene in Berlin und weit darüber hinaus aus dem Herzen sprach.

Das war der zweite Höhepunkt der Erregung, die im Frühjahr vergangenen Jahres allerdings auch schnell wieder abflaute. Unterschwellig war die Wut auf die Personalie zwar immer spürbar, sie äußerte sich in jedem Gespräch mit Granden der Theaterrepublik, aber offiziell herrschte Ruhe im Betrieb. Sie hielt bis in diese Tage an, bis zu dem – vorerst letzter Höhepunkt – an Deutlichkeit nichts zu wünschen lassenden Brief, den die Mitarbeiter der Volksbühne jetzt an den Senat schrieben: „Uns schreckt nicht das Neue“, heißt es da, aber „der Intendantenwechsel ist keine freundliche Übernahme, sondern eine irreversible Zäsur“. Zu den zornigen Unterzeichnern gehören Schauspieler wie Sophie Rois, Birgit Minichmayr, Kathrin Angerer und Martin Wuttke sowie Theaterleute wie René Pollesch, Carl Hegemann und Anna Viebrock.

Der Brief bezieht sich auf eine Ensembleversammlung Ende April, bei der sich Dercon den Mitarbeitern vorstellte – nicht sehr erfolgreich, wie man jetzt weiß. Offensichtlich war der designierte Chef nicht in der Lage, die Eventbuden-Befürchtungen zu zerstreuen. Nach seinen nebulösen Ankündigungen, die keine „konzeptionelle Linie der Weiterentwicklung unseres Theaters“ erkennen ließen, fürchten die Volksbühnen-Leute vielmehr den „Ausverkauf der für uns geltenden Maßstäbe und die Schwächung unseres potenten Schauspieltheaterbetriebs“. Während das rote Rathaus die Sorgen routinemäßig als unbegründet bezeichnete, freute sich der immer anwesende Peymann über den späten Widerstand und forderte den Regierenden Bürgermeister Michael Müller auf, Dercon schlicht und einfach auszuzahlen. Ende der Komödie?

In der Tat: Auszahlen könnte eine Lösung sein. Wie es scheint, hat der Museumsmann in Berlin derzeit nicht viele Freunde – in der Volksbühne, die sich mit ihrem vehementen Protest zu alten Höhen aufschwingt, schon gar nicht. Martin Wuttke hat das Haus in dieser Zeitung jüngst als „Widerstandsnest“ bezeichnet. Wie folgenreich die im streitlustig verschworenen Castorf-Stamm seit zwei Jahrzehnten ausgebrüteten Ästhetiken noch immer sind, zeigt sich ja nicht zuletzt in Stuttgart. Am kommenden Freitag spielt Wuttke in der Uraufführung des neuen Stücks von René Pollesch mit: „Stadion der Weltjugend“ im Kornwestheimer Autokino. Ein Projekt, undenkbar ohne das Haus am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin-Mitte.