Im Land sind so viele Jugendliche obdachlos wie noch nie. Auch in Stuttgart ist die Lage prekär.

Stuttgart - Immer mehr Menschen unter 25 Jahren in Baden-Württemberg sind wohnungslos. Mit 1265 Personen wurde 2009 ein neuer Höchststand verzeichnet, das sind 181 Personen mehr als ein Jahr zuvor. Auch in Stuttgart ist mit 264 obdachlosen jungen Menschen die Lage prekär: Anlaufstellen klagen über Personalmangel.

Vielleicht war es seine letzte Chance: Bis vor einem Jahr noch trank der 20-jährige Jürgen H. (Name geändert) täglich zwei Liter Wodka. Harte Drogen kamen dazu. Da sich Jürgen mit dem Messer immer wieder selbst verletzt hat, kam er in die geschlossene Psychiatrie.

Nach dem Aufenthalt in der Klinik gab es für Jürgen keinen Ort, an dem er wohnen konnte. Doch er hatte Glück: Er bekam einen Platz im Don-Bosco-Haus im Stuttgarter Westen, einem Wohnheim für wohnungslose junge Männer. In der teilstationären Einrichtung erhielt er nicht nur ein Zimmer, sondern wird auch von einem Team von Sozialarbeitern begleitet, das mit ihm Fragen rund um Behördengänge, Arbeit, Ausbildung und Sucht klärt.

In zehn Jahren ein Anstieg von 70 Prozent

Jürgen ist kein Einzelfall: Immer mehr Menschen in Baden-Württemberg sind wohnungslos. Die 18. Stichtagserhebung der Liga der freien Wohlfahrtspflege Baden-Württemberg ergab einen neuen Höchststand. In einem Zeitraum von zehn Jahren seit 1999, in dem die Bevölkerung um drei Prozent wuchs, kam es zu einem Anstieg von 61 Prozent bei wohnungslosen Frauen und fast 19 Prozent bei den Männern; insgesamt sind 9516 Menschen im Land wohnungslos.

Besonders betroffen sind Menschen unter 25 Jahren: Deren Zahl liegt bei 1265 - auch hier wird ein neuer Höchststand bei einem Anstieg um 181 Personen, also um 17 Prozent, verzeichnet. Dabei handelt es sich um eine langfristige Entwicklung, der Anstieg der letzten zehn Jahren betrug 70 Prozent.

Auch in der Landeshauptstadt spitzt sich die Situation zu. Zwar stieg in Stuttgart die Zahl der jungen Wohnungslosen nicht an: Die Stichtagserhebung ergab 2008, dass 264 junge Menschen auf der Straße lebten - genauso viele wie im vergangenen Jahr. Dafür aber bewegten sich die Zahlen in Stuttgart schon seit Jahren auf sehr hohem Niveau, so Sabine Henninger, Koordinatorin der Zentrale Beratungsstelle für junge Erwachsene (ZBS). Die Einrichtung ist der Wohnungsnotfallhilfe in Stuttgart zugeordnet, sie ist Anlaufstelle für junge Wohnungslose im Alter von 18 bis 25 Jahren. Träger ist die Evangelische Gesellschaft Stuttgart (Eva).

Mancher kommt direkt aus dem Jugendgefängnis

 Zwischen 500 und 440 junge Menschen wandten sich seit 2005 pro Jahr an die ZBS. Doch die Anlaufstelle musste mit nur zwei Personalstellen auskommen. Eine davon bekleidet der Diplom-Sozialarbeiter Volker Wendel. Seiner Erfahrung nach sind die Gründe für die steigenden Zahlen der jungen Wohnungslosen, dass die Familie als stabiles System oft nicht mehr funktioniert. Folgen der Wohnungslosigkeit sind oft Arbeitslosigkeit, Verschuldung, Drogenabhängigkeit und Krankheit.

Deshalb, so Henninger, wäre es wichtig, dass den jungen Erwachsenen rasche Hilfe zuteil würde. Doch wegen des Personalmangels komme es zu Wartezeiten von zwei bis drei Wochen für ein Beratungsgespräch. "Das ist eine absolut prekäre Situation", sagt Henninger. Bis 2006 hatte die ZBS noch eine dritte Personalstelle über das Jugendamt besetzen können.

Henninger hat deshalb im November 2009 im Sozialausschuss eine Vorlage eingereicht und auf die kurze Personaldecke hingewiesen. Seit Jahresbeginn gibt es nun eine Personalaufstockung um eine Stelle, getragen von der Eva, der Caritas und der Ambulanten Hilfe. Dies ist aber nur eine Zwischenlösung, bis eine endgültige Entscheidung gefällt wird.

Mancher kommt direkt aus dem Jugendgefängnis

Die Arbeit der Zentralen Beratungsstelle Stuttgart ist vielfältig: Jungen Erwachsenen, die kein Dach über dem Kopf haben, wird zunächst meist für drei Monate ein Platz in einem Aufnahmehaus vermittelt. Für unter 25-Jährige gibt es davon drei in Stuttgart: das Neefhaus, das Johannes-Falk-Haus und das Haus in der Mozartstraße. Während dieser Zeit finden regelmäßig Beratungsgespräche statt.

Nach den drei Monaten werden die jungen Wohnungslosen entweder in betreutes Wohnen, in teilstationäre Betreuung (Don- Bosco-Haus) oder vollstationäre Betreuung (Johannes-Falk-Haus) vermittelt. "Wenn junge Menschen wohnungslos werden, haben sie meist eine Kette des Scheiterns hinter sich", sagt Günther Riedlinger, Leiter des Don-Bosco-Hauses. Meist kommen sie aus finanziell schwachen und zerrütteten Familien. So auch Jürgen: Schon als Kind wurden er, seine Mutter und seine Brüder durch den Vater misshandelt.

Mancher kommt direkt aus dem Jugendgefängnis. Die jungen Menschen haben bereits Erfahrungen mit Diebstählen, Schwarzfahren oder auch Körperverletzungen. Dabei ist für die unter 25-Jährigen im Unterschied zu den älteren Wohnsitzlosen charakteristisch, dass sie ihre Situation lange verstecken. Kaum einer verfüge über eine berufliche Perspektive. Abgebrochene Schulkarrieren und auch Lernbehinderungen prägen die Ausgangssituation.

Für Jürgen H. stehen die Chancen gut, einmal ein eigenständiges Leben mit einem eigenen Dach über dem Kopf zu führen. Alkohol trinkt er inzwischen wenig. Er hat sich ein Ziel gesteckt: Er will einen Schulabschluss machen.