Regierungschef Benjamin Netan Foto: AP POOL

Eigentlich müsste sich der Wahlsieger in Israel um die Regierungsbildung kümmern. Tatsächlich aber treibt ihn die Sorge um, dass US-Präsident Obama neue Prioritäten in der Region setzt.

Tel Aviv - Das 800-Einwohner-Dorf Netiv HaAsara hält mehrere Rekorde: Es liegt am engsten an der Grenze zum Gaza-Streifen. Von allen Dörfern und Städten des Landes wurden auf Netiv HaAsara am meisten Raketen und Mörsergranaten von der anderen Seite abgefeuert. Und dann wurde hier auch noch im Juli der längste und größte von allen 39 Tunneln freigelegt, den die Terrororganisation Hamas unter dem Grenzzaun zu Israel graben ließ.

Hila, eine 38-jährige Mutter von zwei Kindern, deutet auf die Reste des Tunnelausgangs, die nur etwa 400 Meter vom Ortsrand entfernt in Sichtweite sind: „Der Tunnel ist 25 bis 40 Meter tief, von innen mit Beton ausgekleidet und so breit, dass Autos hindurchfahren können.“ Abluftanlagen sorgten für Frischluft, Strom für elektrisches Licht. Die Entdeckung des Tunnels hat Hila und den anderen im Dorf deutlich gemacht, wie bedroht sie selbst und das Leben der 250 Kinder hier sind. Da ist nicht nur der ständige Raketenbeschuss, der es nötig macht, dass die Kinder im Bunker spielen und schlafen. Hinzu kommt die Gefahr von Entführungen oder Terrorangriffen im Dorf selbst. Hila: „Die Mörser sollen uns nicht umbringen, sie sollen nur unsere Seelen brechen.“

Israel in diesen Wochen: Das Land hat Mitte März gewählt. Die bekannteste Meinungsforscherin des Landes, Mina Tzemach, beschreibt die innenpolitische Atmosphäre, die im Land herrscht, so: „Es ist zunehmend schwierig für die Politiker geworden, Hoffnung zu verkaufen.“ Angst werde ihnen von den Wählern eher abgenommen. Vier Jahre nachdem in der Region mit dem arabischen Frühling in Ägypten, Tunesien und anderswo Hoffnung aufkam, ist sie längst wieder verpufft.

Der Nahe Osten versinkt im Chaos. In Syrien tobt ein Bürgerkrieg, der über 200 000 Tote gefordert hat. Rund um Israel machen sich die Kämpfer vom Islamischen Staat breit. Immer mehr Staaten zerfallen, jüngstes Beispiel ist der Jemen.

In diesen Tagen nun wird für Israel eine Sorge immer drängender: Könnte es sein, dass Israel in Washington an Einfluss verliert? Ist US-Präsident Barack Obama bereit, für die Beilegung des Atomstreits mit Iran eine dauerhafte Schädigung der Beziehungen zu Israel hinzunehmen?

Seit Mittwoch ist der Wahlsieger Benjamin Netanyahu vom konservativen Likud-Bündnis offiziell beauftragt, eine neue Regierung zu bilden. Doch seine Koalition aus rechten und religiösen Parteien schmiedet „Bibi“ allenfalls am Rande. Ihn beschäftigen vor allem die Verhandlungen, die im schweizerischen Lausanne ablaufen.

Der israelische Ministerpräsident ist hochgradig alarmiert. Schon bei sein em Besuch in Washington kurz vor der Wahl geißelte er die Verhandlungen mit Iran als „naiv“. Damals haben manche Beobachter diese Zwischenrufe noch als wahltaktisch motiviert gesehen. Doch jetzt nach der Wahl legt er nach: Ein mögliches Abkommen mit Teheran kritisiert er als „Belohnung für die Aggressivität des Irans“. Und weiter: „Die gemäßigten und verantwortungsvollen Staaten der Region, allen voran Israel, sind die ersten, denen durch diese Vereinbarung Schaden zugefügt wird.“

Der Likud-Politiker Silvan Shalom, der zuletzt als Energieminister am Kabinettstisch saß und schon einmal Außenminister war, stellt fest, der Iran habe die Staatengemeinschaft über die Jahre im Atomstreit regelrecht „ermattet“. Shalom stellte dieser Tage vor Journalisten infrage, ob die USA angesichts der Annäherung an Iran künftig noch die Rolle eines Vermittlers im Nahost-Konflikt ausüben könnten. In Israel ist die Sorge groß, dass die USA eines Tages nicht mehr so eng an der Seite des jüdischen Staates stehen könnten.

Damit treten innenpolitische Themen in den Hintergrund, die den Wahlkampf erst dominiert hatten. Vor allem in Tel Aviv , der Metropole des modernen Israel, klagen die Menschen über kaum mehr bezahlbare Wohnungen und horrende Lebenshaltungskosten. Hinzu kommen Boykottdrohungen der EU. Immer mehr Unternehmen, die sich mit staatlichen Subventionen im zwischen Arabern und Israelis umstrittenen Westjordanland angesiedelt haben, bekommen unbequeme Nachfragen aus der EU.

Die Außenpolitik ist mit Macht zurück. Die Bedrohung durch eine mögliche Atommacht Iran ist nur eine der immer drängenderen Fragen. In der arabischen Welt rund um Israel herum ziehen immer mehr muslimische Kämpfer in den Krieg. Aus Sicht vieler hier in Israel tobt ein weltweiter Dschihad. Der Friedensprozess Israel mit den Palästinensern liegt brach, eine Wiederbelebung steht in den Sternen. Netanyahu hatte im Wahlkampf spektakulär einem Palästinenserstaat eine Absage erteilt. Nach der Wahl hat er seine Aussagen zwar etwas relativiert. Doch auch in der Bevölkerung hat der Glauben an eine Aussöhnung nachgelassen. So haben sich noch 2013 etwa 70 Prozent der Israelis in Meinungsumfragen für einen eigenen Palästinenserstaat ausgesprochen. Seitdem bröckelt aber die Zustimmung, inzwischen ist nur noch gut die Hälfte der Israelis für die Zwei-Staaten-Lösung. Viele Menschen sind skeptisch, rechnen damit, dass die nächste Welle von Attacken der Hamas nur eine Frage von Wochen ist.

So auch Hila, die Mutter aus dem Dorf an der Grenze. Sie berichtet, was in ihrem Heimatort geschah, als am ersten Dezember das neue Schuljahr begann und die Kinder um 7.30 Uhr in Netiv HaAsara auf den Schulbus warteten. „Es detonierte in unmittelbarer Nähe zur Bushaltestelle eine Rakete, die von der anderen Seite abgefeuert worden war.“ Die Hamas hatte eine zynische Botschaft für die Schüler an das Geschoss geheftet: „Schöne Grüße zum ersten Schultag.“