Jede dritte Tierart in Deutschland ist gefährdet Foto: dpa

Die Zahlen sind dramatisch: Ein Drittel der Tier- und Pflanzenarten auf den Roten Listen in Deutschland droht auszusterben oder ist schon verschwunden. Naturschützer fordern endlich Konsequenzen.

Stuttgart - Die Älteren erinnern sich vielleicht noch an den „Spatz vom Wallraffplatz“, der von 1969 bis 1976 in die Wohnzimmer flatterte. Neben „Robbi, Tobbi und dem Fliewatüüt“, „Felix“ und „ Catweazle“ war der kleine Fratz aus brauner Wolle und Pappmaschee einer der Stars des öffentlich-rechtlichen Fernsehens.

Der Spatz kam von Berlin an den Rhein geflogen und nistete sich auf einer Platane am Kölner Wallrafplatz in Sichtweite des WDR-Funkhauses ein. Von dort ging er als flattender Reporter auf Erkundungstour. Kaum zu glauben, dass seine echten Verwandten auf der „Roten Liste der Brutvögel Deutschlands“ stehen.

Zwar geht es dem Haussperling immer noch besser als den akut bedrohten Brachpieper, Moorente oder Auerhuhn. Doch selbst er steht auf der Vorwarnliste, weil Lebensraum und Bestand rapide schwinden.

Von 72 000 Arten in Deutschland sind zwei Drittel gefährdet

Der süße kleine Spatz steht stellvertretend für viele Arten, denen es ans Leder und Gefieder geht. Von rund 72 000 hier zu Lande bekannten Tier-, Pflanzen- und Pilzarten sind laut dem jetzt veröffentlichten ersten Artenschutz-Report des Bundesamtes für Naturschutz (BfN) ein Drittel in ihrem Bestand gefährdet und bereits fünf Prozent ausgestorben. Das Schlimmste ist: Sie machen nur einen Bruchteil der weltweit mehr als 15 Millionen existierenden Arten aus, die vielfach noch sehr viel übler dran sind.

Vogelsterben? Man mag es angesichts des morgendlichen Gezwitschers kaum glauben. Und doch sind selbst Amseln, Rotkehlchen oder Grünfinken, die noch vor 20 Jahren Gärten und Parkanlagen bevölkerten, sind selten geworden.

Mit Vogelstimmen ist es wie mit der Biodiversität: Entscheidend ist die Vielfalt. Beim Spatz ist der Bestand in den meisten Bundesländern in den letzten 25 Jahren um 20 bis 50 Prozent zurückgegangen, bei der Turteltaube beträgt der EU-weite Schwund sogar 95 Prozent. Besonders dramatisch für die Nahrungskette ist der Verlust bei wirbellosen Tieren. Fast 46 Prozent der Insekten, Würmer, Schnecken oder Muscheln sind gefährdet, extrem selten oder ausgestorben. Die Folge: Anderen Tieren droht der Hungertod.

Mehr Wildkatzen – nur ein schwacher Trost

Die Gründe für dieses Dahinschwinden der Arten sind seit langem bekannt – genauso wie die Maßnahmen zu ihrer Erhaltung: weniger Intensivlandwirtschaft und Pestizide, mehr naturbelassene Flächen und Ausbau von Grünland etc. etc.. Die Erfolge, die Naturschützer vorweisen können, sind wie ein viel zu kleines Pflaster auf einer riesigen Wunde.

Zwar hat sich erfreulicherweise der Bestand an Wildkatzen auf bis zu 7000 Tiere erhöht. Auch gibt es wieder mehr Biber und Schwarzstorche in Deutschland. Doch nicht die einzelne Spezies ist das Problem, sondern das strukturell bedingte, auch durch ambitionierte Schutzprogramme und Wiederansiedlungsprojekte nicht zu stoppende Aussterben. Gerade das ist beängstigend und besorgniserregend.

Der Mensch sägt selbst den Ast ab, auf dem er sitzt.

Die Forderungen des BfN gehen in die richtige Richtung: besseres Management der Schutzgebiete, mehr Grünbrücken oder Abschied von den Flächenprämien bei der Agrarförderung. Doch was nützen kluge Strategien und die ewig gleichen Rufe der Umweltverbände nach Konsequenzen, wenn sich nichts Grundlegendes ändert. Artenschutz ist Sisyphusarbeit. Kleine Erfolge stehen massiven Bestandsrückgängen gegenüber. An jeder bedrohten Art hängen weitere, die fürs Überleben als Nahrung oder Symbiosepartner unentbehrlich sind. An der Spitze der Nahrungskette steht der Mensch, der beim dilettantischen Versuch Evolution zu spielen den Ast, auf dem er sitzt, selbst absägt. Haben wir es überhaupt noch in der Hand, diesen schleichenden Prozess zu verlangsamen, geschweige denn zu stoppen? Solange selbst Spatzen ums Überleben kämpfen. müssen wohl kaum!

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