Das Stuttgarter Ensemblemitglied Julischka Eichel triumphiert in Berlin. Foto: dpa

In der Berliner Schaubühne bringt Armin Petras den Erfolgsroman von Frank Witzel heraus: „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“ – ein munteres Jugendtheater im XXL-Format unter Beteiligung der Stuttgarter Grunge-Band Die Nerven.

Stuttgart - Romane als Drama auf die Bühne zu bringen ist eine seit Jahren gepflegte Mode in unseren Theatern. Manche lieben den Gattungswechsel, manche verachten ihn, was in der notorisch streitlustigen Branche immer wieder Grundsatzdebatten auslöst, die zu nichts führen. Denn statt sich in den Haaren zu liegen, sollte man lieber die Augen öffnen und die Erfahrung sprechen lassen: Ob sich ein Roman sinnvoll dramatisieren lässt, hängt schlicht von seiner Beschaffenheit ab. Frank Witzels „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“ ist eine 800 Seiten starke Prosa, die in einem aberwitzigen Mix mit verschiedenen Textsorten spielt: mit realistischen Erzählungen und fantastischen Tagträumereien, mit Essays und Protokollen, Exkursen und Zeitdokumenten, alles furios ineinander verwirbelt in Herz und Kopf eines pubertierenden Ich-Erzählers, der seinerseits nie wirklich greifbar wird. „Die Erfindung“, wie man den Titel mit Zustimmung seines Autors abkürzen darf, ist ein Superroman, der die Möglichkeiten des Genres bis an seine Grenzen auslotet. Eine Stärke, die sich allerdings in Schwäche verkehren kann, sobald man das Werk auf die Bühne bringt: Für eine Dramatisierung eignet sich Witzels Roman eher nicht.

Der Stuttgarter Intendant Armin Petras versucht es trotzdem und bringt als unerschrockener Regisseur „Die Erfindung“ in der Berliner Schaubühne raus – eine Uraufführung mit hohem Aufmerksamkeitswert, was indes nicht nur an der Herausforderung liegen dürfte, die mit der Adaption des komplexen Romans verbunden ist, sondern auch am Roman selbst. Im vergangenen Oktober gewann er in Frankfurt den Deutschen Buchpreisund erfuhr mithin einen enormen Popularitätsschub. Petras indes hatte sich die Aufführungsrechte schon vor der verkaufsfördernden Auszeichnung gesichert. Nicht Kalkül trieb ihn zur „Erfindung“, sondern Interesse: In seinem Roman erzählt Witzel die Geschichte der alten BRD nämlich just so, wie Petras unter dem Autorenpseudonym Fritz Kater die Geschichte der DDR erzählt. Um ihr jeweiliges Deutschland zu verstehen, nutzen beide die vom Aufruhr der Hormone bestimmte Perspektive von Jugendlichen – und diese aus Rock & Rebellion gespeiste Perspektive ist es auch, die sich Petras als Erzählstrang aus dem reichen Stoffangebot des Witzel-Romans zieht. Auch im Gesamtwerk des Stuttgarter Intendanten sind Ost und West jetzt vereint.

Die brachiale Musik der Nerven rettet die Inszenierung

Aber zurück zu Rock & Rebellion: Bevor die Zuschauer den Theatersaal betreten, passieren sie freundliche Damen, die ihnen Ohrstöpsel offerieren. Es wird laut werden, sagen sie – und kaum hat man Platz genommen, erfüllt sich die Vorhersage auch schon. Noch ist kein Wort gesprochen, legt das Musikertrio auf der Bühne infernalisch los: Bass, Gitarre, Schlagzeug der Nerven, der aus Stuttgart kommenden Band der Stunde, die derzeit bundesweit Furore macht. Und obwohl es die drei Jungs krachen und dröhnen, rumpeln und poltern lassen, auch durch Ohrstöpsel hindurch, zeichnen sich in ihren Grunge-Gewittern erkennbar Melodien und Strukturen ab. Als Enkel von Neil Young und Kinder von Kurt Cobain umfluten sie die Inszenierung akustisch, mal mit wüsten Lärmfetzen, mal mit sanften Klangkostümen und auf jeden Fall druckvoll und heutig: eine Nostalgieshow für Altachtundsechziger, signalisiert Petras, soll sein Abend nicht werden. Von den Beatles und den Stones, von Cream und Led Zeppelin ist hier jetzt zwar ständig die Rede, aber nichts zu hören. Stattdessen der Noise der Nerven – und das ist gut so, denn deren brachiale Frische rettet die Uraufführung vor der inszenatorischen Routine.

Auf der Bühne von Katrin Brack stehen Schaufensterpuppen. In Pastellfarben gekleidet, umringen sie nicht nur die Punkband, die ihr Equipment in der Mitte aufgebaut hat, sondern auch die fünf Schauspieler, die in diesem spießigen, von blonden Kindern mit blonden Müttern bevölkerten Puppenland agieren. Fragmentarisch schält sich aus ihren Schilderungen die Story heraus: Biebrich, ein Vorort von Wiesbaden, 1969, als man bei NSU noch an eine Automarke dachte und an einen Rocksong, der dieser Marke huldigte. Die endlose Langeweile der Provinz und schließlich der Hunger der Pubertierenden nach der Tat: Sie wollen der mehr gefühlten als gewussten Nazi-Vergangenheit der Väter entfliehen und den „ganzen bürgerlichen Scheiß“ hinter sich lassen, weshalb sich ihre erzählerische Fantasie bald nicht mehr an „Fix und Foxi“, sondern an Fahndungsplakaten entzündet. Abwechselnd stürzen sich die Spieler deshalb in abenteuerliche Entführungen, Banküberfälle, Schießereien und Verfolgungsjagden, doch nachdem sie das mit Verve getan haben, frieren sie sich ein: Auch sie erstarren zu Puppen und werden zu austauschbaren Prototypen einer Bühnenerzählung, die aufs Große und Ganze einer Zeitgeschichte aus ist: „1969 entwickelt sich das Unbewusste in Bewusstsein. Beat und Pop werden zu Rock, Hippietum zur RAF“ heißt es im Roman und auch im Stück.

Viel Applaus und ein fader Beigeschmack

Das klingt gut. Das Problem ist aber, dass die Inszenierung, anders als ihre Vorlage, den Anspruch einer triftigen Zeitdiagnose nur im bescheidenen Maße einlösen kann. Natürlich beherrscht Petras sein Handwerk aus dem Effeff, natürlich weiß er, wie man einen Roman auf die Bühne bringt und epische Stoffe im blitzschnellen Hin und Her zwischen Erzählen und Spielen auffächert. Und natürlich kann man wieder die Leichtigkeit und Unaufdringlichkeit dieser von ihm schon häufig erprobten Verfahrensweise bewundern. Auch das Publikum der Berliner Schaubühne bedankt sich für die Witzel-Uraufführung mit heftigem Applaus und kann den faden Beigeschmack, der uns im Mund liegt, doch nicht wegklatschen. Petras macht aus dem stofflich stark reduzierten Roman ein munteres Jugendtheater – im XXL-Format, zugegeben, aber doch ein Jugendtheater mit übrigens starker Stuttgarter Beteiligung. Von den wunderbar tollwütigen Nerven abgesehen stammen drei der fünf Darsteller aus dem hiesigen Ensemble: Paul Grill, Peter René Lüdicke und die immer präsenter werdende Julischka Eichel. Ende des Jahres werden sie als „manisch-depressive Teenager“ auch im Schauspielhaus zu sehen sein: Die „Erfindung“ wird in Stuttgart übernommen.

Aufführungen in der Berliner Schaubühne am 11. und 12. April sowie am 8. und 29. Mai.