Eine Gruppe armenischer Flüchtlinge aus dem osmanischen Reich sitzt 1915 in Syrien auf dem Boden Foto: Library of Congress/dpa

Vor einem Jahr schrieb der heutige türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogğan Geschichte: Seine Regierung sprach den Hinterbliebenen der Opfer von 1915 ihr Beileid aus und erhielt dafür auf internationaler Ebene Respekt – nun schlägt Erdogğan bei der Armenier-Frage neue Töne an.

Istanbul - Auf dem Gehsteig der Einkaufsstraße Halaskargazi Caddesi in der Innenstadt von Istanbul ist eine Metalltafel ins Pflaster eingelassen. Die meisten Passanten kümmern sich nicht weiter um die Tafel, die in armenischer und türkischer Sprache an Tag und Uhrzeit des Mordes an dem Journalisten Hrant Dink im Januar 2007 erinnert.

An dieser Stelle vor dem Redaktionsgebäude seiner Zeitung „Agos“ wurde Dink am helllichten Tag von einem rechtsradikalen Teenager erschossen. Nur hin und wieder bleibt ein Fußgänger an der Tafel stehen. „Schau mal, hier war das“, sagt ein junger Mann zu seinem Begleiter. Dann gehen sie weiter.

Dink wurde getötet, weil er eine ehrliche Aufarbeitung der Armenier-Massaker des Jahres 1915 in der Türkei forderte. Rechtsextremisten erklärten ihn deshalb zum Staatsfeind, der den Tod verdient habe.

Erdogan beklagt eine Kampagne gegen sein Land

Vor dem 100. Jahrestag der Gräueltaten an den Armeniern im Osmanischen Reich geht jetzt auch der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan in die Offensive und beklagt eine Kampagne gegen sein Land. Mit „Völkermord“-Behauptungen werde versucht, Feindseligkeiten gegen die Türkei zu schüren, sagte er am vergangenen Donnerstag in Istanbul.

Dabei seien von der Gewalt im Ersten Weltkrieg nicht nur Armenier betroffen gewesen. „Es gab Hunderttausende Muslime, die durch Armenier Schaden erlitten.“ Erdogan rief die Armenier, die heute außer in der früheren Sowjetrepublik Armenien in der Diaspora, in der Welt zerstreut, leben, zu einer wissenschaftlichen Untersuchung der geschichtlichen Hintergründe auf.

Armenier gedenken am 24. April des Beginns der Gräueltaten an ihrem Volk im Osmanischen Reich 1915. Nach armenischen Angaben fielen damals 1,5 Millionen Menschen Morden, Hinrichtungen und Todesmärschen zum Opfer. Die osmanische Reichsregierung betrachtete die christlichen Armenier als Fremdkörper und wollte sie aus Anatolien vertreiben. Nach Ansicht der meisten Forscher nahmen die Behörden dabei den Toden von hunderttausenden Menschen zumindest billigend in Kauf. Die Türkei hält diese Zahl für überhöht und lehnt es strikt ab, im Zusammenhang mit den Gräueltaten von Genozid zu sprechen.

Bundesregierung spricht offiziell nicht von Genozid

Zahlreiche Parlamente sowie Länder wie Frankreich und die Schweiz, aber auch internationale Organisationen bezeichnen die Vertreibung und Vernichtung der Armenier heute als Völkermord. Die Bundesregierung spricht offiziell nicht von Genozid. Das Deutsche Kaiserreich war während der Gräueltaten im Ersten Weltkrieg enger Verbündeter des Osmanischen Reiches.

Dinks Nachfolger im Amt des „Agos“-Chefredakteurs, Yetvart Danzikyan, ruft seine türkischen Landsleute auf, endlich die dunklen Hintergründe des möglichweise mit Mitwisserschaft staatlicher Stellen begangenen Mordes an Dink zu beleuchten und sich den Verbrechen von 1915 zu stellen. „Es wird Zeit, dass wir damit anfangen“, schrieb Danzikyan kürzlich.

Die Gelegenheit wäre günstig: Der Jahrestag am 24. April wird das Thema wieder auf die Tagesordnung bringen, das Ausland wird die Türkei wieder einmal aufrufen, sich dem dunklen Kapitel ihrer Geschichte zu stellen. Ankara weiß das und hat vorgesorgt. Für die entscheidenden Tagen im April hat Präsident Erdogan viele Staatsgäste aus aller Welt zu Gedenkfeiern eingeladen – aber nicht an die Armenier soll erinnert werden, sondern an den Sieg der Türken in der Schlacht von Gallipoli, bei der die Entente-Mächte des Ersten Weltkrieges versuchten, die Meerenge der Dardanellen und anschließend Istanbul zu erobern. Der Versuch scheiterte, und dieser Erfolg der Türken soll jetzt gefeiert werden.

Türkische Regierung warnt vor Machenschaften der armenischen Diaspora

Dass der armenische Staatsschef Serge Sarkisian die Einladung Erdogans zur Jubelfeier ausgeschlagen hat, wundert niemanden. In Ankara warnt die türkische Regierung unterdessen vor den Machenschaften der armenischen Diaspora, die als besonders unversöhnlich gilt und der in den USA großen Einfluss auf die Politik nachgesagt wird. Doch bei aller Unversöhnlichkeit gibt es Signale der Veränderung in der Türkei, die unter anderem von Erdogan ausgehen. Im vergangenen Jahr gedachte er, damals noch als Regierungschefs, erstmals öffentlich des Leids der Armenier. Kurz vor dem Armenier-Jahrestag erweiterte der 61-jährige jetzt seinen Vorschlag zur Bildung einer unabhängigen Historikerkommission zur Völkermords-Frage um eine wichtige Komponente.

Erdogan zufolge sollen die Fachleute ohne Einmischung der Politiker untersuchen, was 1915 geschah. Im Staatssender TRT sagte er darüber hinaus, die Türkei werde sich dem Urteil der Experten beugen. Sollten die Historiker am Ende ihrer Untersuchung zum Schluss kommen, dass Türken damals Schuld auf sich geladen und „einen Preis zu zahlen“ hätten, dann werde er entsprechend handeln.

Das ist neu. Kritiker tun den Erdogan-Vorschlag zwar als Versuch ab, auf Zeit zu spielen und die Frage einer Anerkennung des Völkermordes auf den Sankt-Nimmerleinstag zu verschieben. Doch so weit wie Erdogan hat sich bisher noch kein türkischer Politiker vorgewagt. Zumindest grundsätzlich, so lautet sein unausgesprochenes Angebot, wäre die Türkei bereit, dem Vorwurf des Genozids durch die damalige osmanische Reichsregierung ins Auge zu sehen.

Zu Beginn seiner Amtszeit als Premier im vergangenen Jahrzehnt hätte Erdogans Offerte einen Sturm der Entrüstung ausgelöst – heute wurde er fast kommentarlos hingenommen. Vor zehn Jahren kam Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk vor Gericht, weil er öffentlich von einem Völkermord an den Armeniern sprach und damit nach Ansicht der Staatsanwaltschaft „das Türkentum beleidigt“ hatte.

Öffnung in der türkischen Gesellschaft

Im Jahr 2012 dagegen wurde das eindeutig betitelte Buch „1915: Armenischer Völkermord“ des Journalisten Hasan Cemal zum Bestseller und stand in allen Buchläden. Cemal, Enkel eines der Verantwortlichen für die Armenier-Massaker von 1915, beschreibt darin, wie er sich selbst in einem schmerzhaften Prozess dazu durchrang, den Völkermord anzuerkennen.

Wegen dieser Öffnung in der Gesellschaft hat Erdogan mehr Spielraum in der Armenier-Frage, auch wenn niemand in Ankara von einer raschen Normalisierung der Beziehungen zu dem östlichen Nachbarstaat spricht. Die gemeinsame Grenze bleibt weiterhin geschlossen. Doch Erdogan kann vor dem Jahrestag seine Gesprächsbereitschaft unterstreichen, ohne einen Aufstand der Nationalisten befürchten zu müssen.

Auf den Straßen Istanbuls findet der Kurs des Präsidenten viel Unterstützung. „Ich habe damals nicht gelebt, woher soll ich wissen, was los war“, sagt der Erdogan-Anhänger Atilla Kocer. „Wenn die Historiker ein Urteil zugunsten der Armenier fällen, dann fügen wir uns“, fügt er hinzu. „Dann werden wir uns entschuldigen.“