Szene aus „Une chambre en Inde“ von Ariane Mnouchkine Foto: AFP

Frankreichs große Regisseurin Ariane Mnouchkine setzt in beängstigenden Zeiten auf quicklebendiges Schauspiel. Ihr neues Werk am Pariser Théâtre du Soleil „Une chambre en Inde“ verwandelt die Konflikte der Welt in ein intensives Bühnenerlebnis.

Paris - Mit dem Urheberrecht muss sie sich nicht herumschlagen. Was die Französin auf die Bühne bringt, hat so noch keiner gemacht und macht ihr auch keiner nach. Wie auch. Wer versuchen sollte, aus Ariane Mnouchkines zahllosen Zutaten ähnlich Grandioses zu mixen, endet als Zauberlehrling, dem alles um die Ohren fliegt. Das Rezept der Theaterregisseurin? Man nehme die ganze beunruhigende Welt. Der Krieg in Syrien, die Grundwasserknappheit, der Klimawandel, Salafismus, Terrorismus, Frauenfeindlichkeit: In „Une chambre en Inde“ (Ein Zimmer in Indien), Mnouchkines von der Kritik gefeiertes neues Werk, kommt es zur Sprache. Ein Schauspiel ohne Grenzen hat sich die Leiterin des Pariser Théâtre du Soleil ausgedacht und mit den Schauspielern weiterentwickelt. Da betreten Shakespeare und Tschechow die Bühne. Saudische Scheichs und isländische Menschenrechtsaktivisten nehmen per Videokonferenz Kontakt auf, reden aneinander vorbei. Mahatma Ghandi schaut herein. Dschihadisten des „Islamischen Staates“ drehen einen Propagandafilm. Indisches Volkstheater, das Therukootu, kündet von einem den Krieg ziehenden König, dem der Abschiedsschmerz das Herz zerreißt.

In den Hallen der im Stadtwald von Vincennes gelegenen ehemaligen Munitionsfabrik, wo Mnouchkine und ihr Théâtre du Soleil seit mehr als einem halben Jahrhundert proben und auftreten, ist nichts unmöglich. Der Handlungsstrang, der oft humorvoll zusammenführt, was nicht unbedingt zusammengehört, ist vergleichsweise simpel. In dem Zimmer, das dem Stück seinen Namen gegeben hat, erfährt Cornelia, Assistentin des Theaterregisseurs, dass dieser nach den Pariser Terroranschlägen aufgibt. Heillos überfordert, flüchtet sich die als Nachfolgerin Auserkorene ins Bett. Sie wird von Alpträumen heimgesucht, vom Schrillen des Telefons in die Wirklichkeit zurückkatapultiert, bevor neuerliche Horrorvisionen heraufziehen. Es ist nicht das erste Mal, dass Mnouchkine derart in die Vollen geht.

Nie war die Regisseurin so präsent

Die Tochter eines russischen Filmproduzenten und einer englischen Mutter, die einer Schauspielerfamilie entstammt, hat auch schon früher Kolossales erschaffen. Immer wieder hat Mnouchkine die Theaterkultur des Orients nach Paris geholt. Als Wandererin zwischen den Kulturen hat sie sich einen Namen gemacht, sie liebt das Volkstheater, lässt mit Vorliebe Bilder sprechen und inszeniert große Themen vor großer Kulisse. Und trotzdem sind da keinerlei Anzeichen von Abnutzung. 77 Jahre alt ist Mnouchkine und kein bisschen müde. Sie steht vor dem Zuschauerraum, kontrolliert die Eintrittskarten. Sie überwacht die Aufführung, steht viereinhalb Stunden lang im Halbdunkel an einem Pult, wendet den Blick nicht von der Bühne. Eine Dompteuse ist sie nun, die eine offenbar aufmüpfige Schar von Schauspielern mit ihrem Blick zu bändigen hat und nebenher notiert, was sie beim nächsten Mal gern anders hätte. Und als der Applaus schließlich abebbt, steht sie schon wieder da, diesmal vor der Garderobe der Schauspieler, umringt von Anhängern, von Bewunderern.

La Reine, nennt man sie in Frankreich, die Königin. Worte, die sich eben noch aufzudrängen schienen, verbieten sich. Wie soll man jemanden, der das Theater derart leidenschaftlich liebt und lebt, mit der Frage konfrontieren, ob dieses Werk ein Manifest ist, ein Vermächtnis, ein Vorbote des Abschieds. „Ein Zimmer in Indien“ hätte das Zeug dazu. Noch nie war die Regisseurin in einem ihrer Werke so präsent.

Cornelia ist Mnouchkines Alter Ego. Die bange Frage nach dem Sinn des Theaters treibt beide um. Cornelia sieht sich mit ihr konfrontiert, als Indiens Kulturministerium wissen will, wozu ihr Theater nutze ist. Die Antwort fällt umso schwerer, als die Welt, in der sich diese Frage stellt, immer undurchsichtiger ist. „Irak, Syrien, ich verstehe nicht, was da abgeht“, klagt Cornelia. Ariane Mnouchkine versteht auch vieles nicht, was in der Welt vor sich geht. „Ein Zimmer in Indien“, erzählt die Regisseurin, sei für sie der Versuch gewesen, das Chaos der Welt auf die Bühne zu bringen, ohne darin zu versinken, „ohne neues Chaos zu produzieren, noch mehr Kummer, noch mehr Böses heraufzubeschwören“. Ein Versuch, der Angst, die den Menschen im Nacken sitze, die Vitalität des Theaters entgegenzusetzen. Nach den Pariser Terroranschlägen vom 13. November vergangenen Jahres sei dies umso vordringlicher. Womit sie zugleich die Sinnfrage beantwortet. Das Theater ist ihr eine Lebenskraft spendende Utopie, die das Publikum ermutigt, der Verrohung des Geistes entgegenzutreten.

In sich stimmige Bühnenwelt

Mnouchkine selbst tritt der Barbarei nicht nur auf der Bühne entgegen. Als Staatsbürgerin trat sie vier Wochen in Hungerstreik, um auf die Not bosnischer Kriegsflüchtlinge aufmerksam zu machen. Das Haar zerzaust, die Strickjacke ausgebeult, ist diese Frau keine Königin, die sich über andere erhebt. Im Théâtre du Soleil will sie erste unter Gleichen sein. Alle bekommen den gleichen Lohn, sie auch. Was der Zuschauer auf der Bühne zu sehen bekomme, sei in gemeinsamer Arbeit zwischen ihr und den Schauspielern, entstanden sagt Mnouchkine. Perfektionistin ist sie allerdings schon auch. Der Besucher des Théâtre du Soleil betritt eine in sich stimmige Welt. Eine indische ist es zurzeit. Alles ist durchdacht bis ins letzte Detail. Am Eingang wachen Männer in indischer Polizeiuniform über Recht und Ordnung. Drinnen fügen sich Lichtergirlanden zu Göttergestalten, blubbert Ingwer- und Hibiskussaft in Kesseln. Und auch im indischen Zimmer gerät bei aller überbordenden Vielfalt nichts aus den Fugen. Vom Betreten bis zum Verlassen des Sonnentheaters spürt der Besucher: Das hier ist die Welt, wie sie sein könnte, aber nicht ist.