Der Architekt Frei Otto ist im Alter von 89 Jahren gestorben. Foto: EPA

Frei Otto ließ Dächer tanzen und versuchte den Menschen ein Bauen nahezubringen, wie er es in Mikro­organismen fand. Legendär sind seine Zeltdächer geworden. Posthum ist ihm noch am Dienstagabend die weltweit wichtigste Architekturauszeichnung, der Pritzker-Preis, zugesprochen worden.

Stuttgart - Jede Begegnung mit Frei Otto hatte etwas Unbedingtes. Auswege gab es im Gespräch nicht, das Ungefähre wischte er nicht etwa weg, es war ihm fremd – und dies ließ er spüren. Oder war eine gewisse Knurrigkeit doch auch Attitüde? Denn auch dies bleibt ja von den Dialogen mit Frei Otto – die Aufmerksamkeit, die Begeisterung – und die Bereitschaft, gerade Begeisterung für die Ideen anderer zu äußern.

Frei Otto? Man wird ihn, der sich in Warmbronn bei Leonberg ein eigenes, panoramahaftes Reich des eigenen Werks geschaffen hat, unter den großen Persönlichkeiten im Nachkriegsdeutschland einreihen dürfen.

Architekt, Künstler und Erfinder war Frei Otto, Techniker und Naturforscher. Kann man da überhaupt von dem einen Werk sprechen? Unvergessen sind: der deutsche Pavillon für die Weltausstellung 1967 (mit Rolf Gutbrod und Fritz Leonhardt) in Montreal, die Olympiadächer für das Gelände der Olympischen Sommerspiele 1972 in München (mit Behnisch und Partner und Fritz Leonhardt), visionäre Städte in der Antarktis und – ja, auch dies – zentrale Ideen für einen neuen Tiefbahnhof in Stuttgart.

Große Geste hat ihn nie interessiert

Die Modelle für diese Projekte hatten nichts von dem Glanz, den Durch- und Einblicken, den virtuellen Spaziergängen heutiger Architekturpräsentationen. Die große Geste hat Frei Otto nie interessiert.

1925 im sächsischen Siegmar geboren, deutet sich schon früh an, wohin das Misstrauen gegenüber rein formalen Strukturen den jungen Ingenieur führen wird. Seine Dissertationsschrift „Das hängende Dach“ (1955) ist Zusammenfassung der experimentellen Auseinandersetzung mit unterschiedlichsten Formen gespannter Membranen, Seilnetzen und Zelten – und programmatische Absage an eine Architektur, die aus den Trümmern Europas eilfertig gebaute Demonstrationen neuen Wohlstands emporwachsen lässt.

Hatten Anfang der 1950er Jahre große Spannhallen den Ingenieur Frei Otto beflügelt, die Membran auf ihre Anwendungsmöglichkeiten hin zu untersuchen, so eröffnet ihm 1960 die Begegnung mit Gerhard Helmcke, damals Ordinarius für Biologie und Anthropologie an der Technischen Universität Berlin, eine neue Welt: „Da ich über Pneus arbeitete und Bläschen und Tropfen studierte“, erinnerte sich Frei Otto später, „erkannte ich in seinen damals erstmaligen Stereofotos von Mikroorganismen alle die in meinen Experimenten erhaltenen Formen wieder.“

Tanzende Dächer

Der Konstrukteur entdeckt, dass alles Konstruierte bereits vorhanden ist, dass man die Baupläne der Natur in ihrer Stabilität wie in ihrer Fragilität ernst nehmen muss. „Die Übereinstimmung der Formen unserer Entwicklungen mit den Mikroorganismen“ beflügelt den jungen Konstrukteur, macht ihn zum Forscher, provoziert den Dialog mit Biologen, Paläontologen, Verhaltensforschern, Physikern und Ingenieuren. „Unsere Entdeckung wurde mir nun wichtiger als das Bauen von Häusern“ – diese Formel bestimmt nun Frei Ottos Schaffen. Behausungen ersetzen Häuser, Dächer tanzen, statt tonnenschwer auf ihre Grundfesten zu drücken. Glück, so die Botschaft Frei Ottos, kann man bauen.

„Was leider wenig geschieht“, schrieb er etwa, „ist das ökologische Bauen weiterzubringen, wobei ich unter ökologischem Bauen nicht das allgemeine verstehe, denn ich halte mich immer noch an dem alten Begriff der Ökologie fest, dem Biologischen, das heißt das Zusammenleben vieler Individuen untereinander.“ Und weiter: „Für mich ist das menschliche Haus und die menschliche Stadt ein Teil der lebenden Natur, so wie ein Vogelnest zu der Art des Vogels gehört, von der es gebaut wird, so ist das mit dem Menschenhaus.“

Mutig holte man 1964 den Gesamtkünstler von der Spree an den Neckar, lässt ihn sich sein eigenes Dach über sein eigenes „Institut für Leichte Flächentragwerke“ bauen. Um Zelte, Seilnetze und Ballondächer geht es Frei Otto in Stuttgart. Für das Thema „Natürliche Konstruktionen“ holte er Konstrukteure, Materialtechniker, und Biologen aus aller Welt nach Stuttgart. Interdisziplinär untersuchte man Knochen und Grashalme, Spinnennetze, Seifenblasen und Termitenhügel, um ihnen brauchbare Ideen abzuschauen. In Stuttgart genießt man den Ruhm, den Frei Otto mit einer Schau im Museum of Modern Art, 1971 in New York und 1975 mit der fünf Kontinente bereisenden Ausstellung „The Work of Frei Otto“ nach Stuttgart trägt. Zugleich aber bleibt auch Distanz – Frei Otto wahrt sie, nicht ohne Koketterie.

Gropius: "Ein glänzender Mann"

„Ein glänzender Mann, mehr Wissenschaftler als Künstler, voller origineller Ideen“, so hatte ihn Walter Gropius schon 1963 weitsichtig charakterisiert.

Posthum wird Frei Ottos Lebensleistung mit einer Auszeichnung geehrt werden, die selbst dem Skeptiker Frei Otto ein Lächeln abgerungen hätte. Die Jury des international wichtigsten Architekturpreises, des Pritzker-Preises, bestätigte noch am Dienstagabend, dass der Preis an Frei Otto geht. Und auch die Pritzker-Jury hebt auf das Universale im Denken und Wirken von Frei Otto ab. Er sei nicht nur Architekt, sondern auch „Forscher, Erfinder, Form-Finder, Ingenieur, Baumeister, Lehrer, Mitarbeiter, Umwelt-Aktivist, Humanist und Schöpfer unvergesslicher Gebäude und Orte“ gewesen, begründete die Jury ihre Wahl. Otto ist erst der zweite Deutsche – nach Gottfried Böhm 1986 – der den seit 1979 jährlich verliehenen Pritzker Preis erhält.

Pritzker-Preis posthum

Die Jury hatte den Preisträger eigentlich erst in rund zwei Wochen benennen wollen, die Verkündung dann aber vorgezogen. „Die Nachricht von seinem Tod ist sehr traurig“, sagte Tom Pritzker, der Vorsitzende der Hyatt-Stiftung, die den Preis verleiht.

Die renommierte Auszeichnung werde somit erstmals posthum verliehen. Otto habe aber vor seinem Tod noch von der Ehrung erfahren. „Ich habe nie etwas getan, um diesen Preis zu erhalten“, habe er der Jury daraufhin gesagt. „Das Gewinnen von Preisen ist nicht mein Lebensziel. Ich versuche, armen Menschen zu helfen. Aber was soll ich sagen, ich bin sehr glücklich.“ Die für den 15. Mai in Miami geplante Verleihung des Preises solle trotzdem stattfinden, teilte die Pritzker-Jury mit.

Eigentlich hatte Otto dabei die Auszeichnung von Star-Architekt und Pritzker-Preisträger Frank Gehry (86) verliehen bekommen sollen. Stattdessen würden bei der Veranstaltung nun zahlreiche frühere Pritzker-Preisträger des Lebens und Werks von Otto gedenken.

Die Architekturwelt verneigt sich vor Frei Otto. Eine große Geste. Was wird darüber hinaus bleiben vom Wirken des Frei Otto? Vor allem wohl seine Skizzen, seine Modelle, sein Werk in Modulen – und dann, immer wieder und von jeder Generation neu entdeckt, diese Pioniertaten: die Zeltdächer von Montreal und München.

Und natürlich auch seine Sätze, seine Warnungen, Mahnungen. Etwa auch vor der eigenen Zunft – oder besser: Vor den Verlockungen, denen man als Architekt erliegen kann. „Es wird“ sagte Frei Otto so etwa einmal, „sehr viel Oberflächliches gemacht. Man sucht die Show und weniger den Inhalt. Da wo viel gebaut wird, da gibt es Architekten, die ich einmal die Investorenarchitekten genannt habe, die für Großinvestoren bauen, denen es hauptsächlich darauf ankommt, und das ist ihre Triebfeder – mit Gebäuden Geld zu verdienen.“ Und Frei Otto sagte weiter: „Die dann durchaus auch Geld rausschmeißen, um Gebäude attraktiv zu machen, aber sie bauen nicht so sehr für Menschen, die später drin arbeiten müssen. An vielen Stellen machen die Kollegen dann Großskulpturen, um sie finanzieren zu können setzen sie Menschen rein.“

Bleiben wird auch dies – Frei Ottos Begeisterung für die Idee eines Durchgangsbahnhofs in Stuttgart und sein Rückzug aus dem Entwicklungsteam des Architekten Christoph Ingenhoven. Die ersten Skizzen für den Siegerentwurf tragen gleichwohl die Ideen der frühen Stuttgarter Jahre von Frei Otto weiter – und bilden so für jeden ersichtlich eine gestalterische wie auch konzeptionelle Anforderung an das Projekt.