Seit 2011 an der Spitze: Christopher Hermann Foto: Michele Danze

Zielstrebig wie kaum ein Krankenkassenmanager baut Christopher Hermann die Südwest-AOK um. Das bringt ihm Lob, aber nicht nur Freunde.

Stuttgart - Man muss Luft rauslassen. Immer wieder kommt Christopher Hermann auf dieses Sprachbild zurück, wenn er über das Gesundheitswesen spricht in seinem gemütlich-singenden rheinischen Idiom, von dem man sich nicht täuschen lassen sollte. Man muss Luft rauslassen.

Für Hermann ist es ein praktisches Bild. Einerseits beschreibt es, wie er das Gesundheitssystem sieht. Als ungesund prall gefüllten Luftballon nämlich, der vor lauter Begehrlichkeit all derer zu platzen droht, die im System Leistungen anbieten. Andererseits beschreibt es die Rolle, die er selbst gerne spielt. Die Rolle desjenigen, der die Luft rauslässt. Hermann, von Natur aus mit gesundem Ego gesegnet, spielt die Rolle gut, sehr gut sogar. Im Luftrauslassen ist der Vorstandschef der Südwest-AOK erfolgreich wie kaum ein Kassenmanager.

Quasi im Soloritt hat der Jurist, der politisch vom gewerkschaftsnahen Großvater geprägt wurde und im Studium eine Vorliebe fürs Sozialrecht entwickelte, durch Rabattverträge das Hochpreismonopol weniger Pharmahersteller für Nachahmerpräparate – sogenannte Generika – geknackt. Allein die Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOKen) haben durch ihn bundesweit seit 2007 rund 4,5 Milliarden Euro gespart. Geld verdienen Generika-Hersteller nur noch durch den Vorsteuerabzug, heißt es sarkastisch in der Branche.

Den Ruf eines Kassenmanagers, der sich was traut

Doch nicht nur dem Generika-Coup verdankt der 60-jährige Hermann den Ruf eines Kassenmanagers, der sich was traut. „Als einer der wenigen Vorstände in der Gesetzlichen Krankenversicherung will er tatsächlich Versorgungsstrukturen ändern“, lobt etwa der renommierte Gesundheitsökonom Jürgen Wasem von der Uni Duisburg-Essen. Langfristig strebe Hermann ein Einkaufsmodell für Krankenkassen an – über direkte Verträge mit Leistungserbringern. „Das kann man gut oder schlecht finden, auf jeden Fall ist es bemerkenswert, dass er eine solche Veränderung will“, so Wasem.

Tatsächlich hat Hermann die Südwest-AOK, mit rund 3,9 Millionen Versicherten die fünftgrößte deutsche Krankenkasse, radikal umgebaut. Wohl keine Kasse ist auf dem Weg vom Payer zum Player so weit gekommen. Hermann will nicht nur für medizinische Leistungen zahlen müssen. Er will über die medizinische Versorgung der Versicherten mitentscheiden, weil diese Versorgung seiner Auffassung nach im bestehenden System mehr oder wenig willkürlich abläuft. Gerade so, wie es zur Gewinnerwartung von Ärzten, Kliniken und anderen Anbietern von Medizinleistungen passt.

Mitte der Nullerjahre ergibt sich für Hermann, damals Vizechef der Südwest-AOK hinter Rolf Hoberg, die Chance, als Gestalter aufzutreten. Der vormalige Unterabteilungsleiter im Düsseldorfer Sozialministerium bekommt vom AOK-Bundesverband den Auftrag, das Thema Rabattverträge anzugehen. Die gesetzliche Möglichkeit, mit Herstellern von Generika Nachlässe auszuhandeln, gibt es da schon einige Jahre. Aber die Krankenkassen trauen sich nicht ran.

Als Generika werden Arzneimittel bezeichnet, die den gleichen Wirkstoff enthalten wie ein bereits eingeführtes Markenpräparat. Aspirin ist ein bekanntes Beispiel. Das Original von Bayer ist teurer als Präparate anderer Hersteller mit dem Wirkstoff Acetylsalicylsäure, obwohl diese genauso wirksam und sicher sind.

Hermann muss viele Prozesse führen

Hermann übernimmt. Er organisiert von Stuttgart aus die erste bundesweite Ausschreibung für eine Reihe von Wirkstoffen, die AOK-Versicherten besonders häufig verschrieben werden. Das Prinzip: Die Kasse sagt Herstellern berechenbar hohe Abnahmemengen zu, im Gegenzug erwartet sie ein Entgegenkommen beim Preis.

Als 2007 die erste Ausschreibungsrunde startet, reagieren die großen Generika-Hersteller sofort mit einer Klageflut. Um fallende Preise und den Verlust von Marktanteilen zu verhindern, ziehen die Platzhirsche alle Register des Vergabe- und Kartellrechts. Sie greifen das von Hermann gewählte Ausschreibungsverfahren frontal an.

Hermann muss viele Prozesse führen, anfangs gehen einige verloren. „Das war auch für mich eine massive persönliche Herausforderung“, erinnert er sich. Es habe viel Pessimismus auch aufseiten der AOKen gegeben. „Aber wir haben immer wieder einen Weg gefunden weiterzumachen“, so der passionierte Marathonläufer.

Einmal, bei einer wichtigen Verhandlung vor dem Bundessozialgericht in Kassel, sehen sich Hermann und sein Rechtsbeistand einer renommierten Stuttgarter Kanzlei mehr als 50 Anwälten klagender Pharmahersteller gegenüber. Doch Hermann gewinnt. So wie letztlich in allen Verfahren, auf die es ankommt.

Es ist ein Lernprozess. Hermann und seine Mitarbeiter entwickeln ein Ausschreibungsformat, das kleinen und mittleren Herstellern die Chance gibt, den Branchenriesen Paroli zu bieten. Die Preise für Generika kommen ins Rutschen. Anfangs habe es Rabatte von 30 Prozent gegeben, inzwischen liege man bei 95 Prozent, berichtet der Kassenmanager stolz. Mehr gehe nicht.

Wie man Luft aus dem Gesundheitswesen rauslassen kann

Die Rabatte sieht Hermann als Musterbeispiel dafür, wie man Luft aus dem Gesundheitswesen rauslassen kann, ohne dass die Qualität der Versorgung leidet. Statt teurer Markengenerika erhalten die Versicherten günstige No-Name-Produkte, die genauso gut sind. Anfangs laufen Apotheker Sturm. Sie fühlen sich gegängelt, klagen über Beschwerden von Patienten, die nicht mehr ihr gewohntes Mittel etwa gegen hohen Blutdruck bekommen. Zudem melden sie Lieferengpässe, weil kleine Hersteller, die von der AOK den Zuschlag erhalten haben, mit der Produktion nicht nachkommen. Aber all das ist längst Geschichte. Inzwischen profitieren alle Kassen von Rabattverträgen, für die Hermann den Weg geebnet hat.

Neben dem Rabattgeschäft, das bald in die 15. Ausschreibung geht, bereitet er den nächsten Coup vor. Nicht nur bei Pharmaherstellern will er einkaufen, sondern auch in Arztpraxen. Wiederum ist das Gesetz auf seiner Seite, als er mit Ärztevertretern erste Gesprächsfäden dazu knüpft. Die Politik hat nämlich entschieden, dass Hausärzte im Dschungel des Gesundheitswesens wie Lotsen fungieren, damit Patienten sich nicht verlaufen. Das soll Ärztehopping vermeiden und die Versorgung verbessern helfen.

Hermann betritt auch bei der hausarztzentrierten Versorgung (HZV) Neuland. Das Prinzip: Die AOK vergütet Leistungen der teilnehmenden Ärzte nicht über den Umweg der Kassenärztlichen Vereinigung (KV), sondern rechnet direkt mit ihnen ab. Und: Die Bezahlung ist besser als im KV-System. Dafür darf die Kasse bei der Behandlung mitreden. Da geht es nicht nur um flexiblere Öffnungszeiten der Praxis, sondern auch um medizinische Leitlinien, Behandlungspfade und -parameter, die strikt einzuhalten sind, vor allem bei chronisch Kranken.

Neue Wege bei der Vergütung

Bei der Vergütung geht die Südwest-AOK ganz neue Wege. Sie verabschiedet sich vom Ausgabendeckel, der bei Medizinern besonders verhasst ist. Denn er sorgt dafür, dass sie zum Quartalsende umsonst arbeiten, wenn zu viele Patienten sie aufgesucht haben. „Dass jede ärztliche Leistung bezahlt wird, war auch auf Kassenseite ein Tabubruch. Vorher war klar, es muss gedeckelt werden, oder es muss ein festes Budget geben“, erinnert sich Hermann. „Als wir dann auch noch vereinbart haben, die Ärzte kriegen sogar Geld, nämlich eine Grundpauschale, wenn der Patient aktuell gar nicht kommt, da haben viele auf Kassenseite gedacht, die sind verrückt geworden.“

Auf Ärzteseite ist der Widerstand ebenfalls zunächst beträchtlich. Die Mediziner misstrauen den Kassen, mehr noch aber misstrauen sie sich gegenseitig. Seit jeher streiten Haus- und Fachärzte unter dem Dach der KV darüber, wie das Geld der Kassen verteilt werden soll.

Argwöhnisch beobachtet die KV unter ihrem damaligen Chef Achim Hoffmann-Goldmayer, wie Berthold Dietsche und Werner Baumgärtner, die Chefs des Hausärzteverbands Baden-Württemberg und des Ärzteverbunds Medi, mit Hermann ins Geschäft kommen. Es ist derselbe Dr. Baumgärtner, der als Chef der später aufgelösten KV Nord-Württemberg stets davor gewarnt hatte, die Kassen könnten mit ihrer „Leitlinienmedizin“ Ärzte zu Abhängigen machen.

„Wir säßen in Baden-Württemberg heute noch in den Schützengräben, wenn wir es als AOK nicht anders gemacht hätten mit unseren Vertragspartnern“, sagt Hermann. Für Dietsche und Baumgärtner ist er voll des Lobes. „Beide haben den Anspruch zu gestalten. Mit schwachen Figuren an der Spitze geht das nicht.“

Auch das mit den Schützengräben ist Geschichte. Rund 500 Millionen Euro nimmt die AOK Baden-Württemberg Jahr für Jahr zusätzlich für die Hausärzte in die Hand, direkte Verträge mit wichtigen Facharztgruppen ergänzen das Versorgungsmodell.

Hermann, der nach diesem Vorbild gerne auch mit Krankenhäusern ins Geschäft kommen möchte, ist überzeugt, dass das Geld gut investiert ist. Er verweist auf die Begleitforschung zur HZV, der zufolge jährlich 4500 teure Klinikeinweisungen von AOK-Versicherten vermieden werden. Besonders chronisch Kranke seien besser versorgt, weil sie den Hausarzt häufiger sehen und weniger überflüssige Behandlungen beim Facharzt über sich ergehen lassen müssen. Zudem würden in der HZV ein Drittel weniger Medikamente verschrieben als in der Regelversorgung, weil der Hausarzt die Verordnungen steuert. Die Botschaft lautet: Die HZV rechnet sich.

Angesichts solcher Erfolgsmeldungen ist unverständlich, dass das Hausarztmodell à la Baden-Württemberg nicht bundesweit Schule macht. Zwar hat die AOK Bayern auch ein Hausarztmodell, es geht aber längst nicht so weit. Das gilt auch für die Hausarztverträge anderer Krankenkassen.

Seitens der Politik wird der Pioniergeist der Südwest-AOK ebenfalls nicht richtig gewürdigt. Vielen geht der baden-württembergische Sonderweg zu weit. Hermann ärgert das. „Die Politik will nicht verstehen, sie wird aber auch falsch beraten. Nach dem Motto: Hier wird angeblich Geld rausgeschleudert, ohne dass etwas für die Versorgung getan wird. Das ist nur noch eine Absonderung von Glaubensbekenntnissen“, kritisiert er. Die guten Ergebnisse der Begleitforschung würden weder von den Kassen noch von der Politik gesehen.

Wenn man sich in Berlin umhört, könnte das auch an der Art und Weise liegen, wie der drahtige Gesundheitsmanager aus Stuttgart in der Hauptstadt wahrgenommen wird. „Er denkt sehr innovativ und will etwas bewegen, macht es sich aber durch seine polternde Art selbst schwer“, hört man aus Kreisen der Großen Koalition. So ernte Hermann in Berlin eher Augenrollen als Beifall.

Keine Frage, der Chef der Südwest-AOK ist ein Macher mit Ecken und Kanten. So sieht es auch die Konkurrenz. „Christopher Hermann gehört zweifellos zu den klügsten Köpfen in den Führungsetagen der Krankenversicherungen“, sagt Jens Baas, Chef der Techniker-Krankenkasse. Und: „Er ist extrem kenntnisreich und dabei auch durchaus streitbar. Daher fürchten viele die Auseinandersetzung mit ihm, mir hat sie allerdings immer Spaß gemacht.“

Hermann weiß um seine Wirkung. „Ich habe klare Positionen und vertrete sie auch. Es kann sein, dass das dem einen oder anderen als schroff erscheint. Für mich ist wichtig, meine Positionen auch zu fundieren“, sagt er. Er laufe ja nicht cholerisch durch die Gegend, sondern vertrete gut begründbare Meinungen. Der AOK Baden-Württemberg habe das gutgetan. „Einige behaupten, dass sie nie so erfolgreich dastand wie jetzt. Ich will das nicht dementieren“, sagt er.

Man würde da jetzt gern etwas Luft rauslassen. Aber wo er recht hat, hat er recht.