Am Tag nach dem Anschlag liegen Blumen, wo die Opfer gestorben sind. Während Ermittler nach Beweisen suchen, geht für die Touristen der Alltag schon wieder weiter. Foto: AFP (2), Getty

Der Attentäter von London stand schon einmal im Fokus der britischen Polizei, wurde aber nicht weiter überwacht. Die Terrormiliz Islamischer Staat behauptet, hinter der Tat zu stecken.

London - Business as usual sollte es am Donnerstag sein in London. Ihrem täglichen Geschäft müsse die Stadt nachgehen, war das Gebot der Premierministerin Theresa May. Mit typisch stoischer Haltung wollte man in Westminster auf die Terroraktion reagieren, die das Land so brutal aufgeschreckt hat. Alles andere, darin waren sich die meisten Briten einig, hätte den Terroristen nur in die Hände gespielt.

Ganz so einfach war es aber natürlich nicht, mit dem alltäglichen Leben. Spürbare Nervosität hat die Londoner Innenstadt erfasst. Am Tag nach dem Anschlag fragten sich viele, die aus den U-Bahn-Eingängen Leicester Square, Picadilly Circus oder des Embankment strömten, ob so ein Anschlag noch einmal passieren könnte.

„Das war ja nur ein einzelner Kerl, und er war nur mit einem Messer bewaffnet“, sagte eine junge Verkäuferin auf Charing Cross Road. „Was ist, wenn sich eine ganze Terrorgruppe zu einer größeren Tat verschwört?“ Die Sorge der Frau ist verständlich.

Obwohl es sich nach Auffassung der Polizei bei dem 52-jährigen Khalid Masood nur um einen Einzeltäter handelte, endete dessen Amokfahrt in einem Blutbad, wie es London seit den Kings-Cross-Anschlägen von vor zwölf Jahren nicht mehr erlebt hat. Fünf Tote – ein 75-jähriger Mann erlag am späten Donnerstagabend seinen Verletzungen – und vierzig Verletzte wurden gezählt. Die Opfer kamen aus mindestens elf verschiedenen Länder dieser Welt. Das war kein Zufall. Westminster ist nicht nur das viel beschworene Herz der britischen Demokratie, sondern natürlich auch eine der wichtigsten Touristenattraktionen der Stadt.

Trotzige Sondersitzung

Eine Gruppe von Schülern aus der Bretagne war die Brücke entlang getingelt, als der Attentäter seine Opfer niederfuhr. Eine spanische Lehrerin, Mutter zweier Kinder, wurde als erstes Todesopfer auf der Brücke identifiziert. Ein junger Amerikaner aus Utah war getötet worden. Und unter den Verletzten waren Polen, Iren, Griechen, Deutsche, Rumänen, Koreaner, Chinesen und natürlich viele Briten – ein Querschnitt durch das Völkergemenge, das in Westeuropas größter Stadt lebt und arbeitet. Landsleute der Opfer und schockierte Einheimische kamen am Donnerstag zu den Absperrungen um das Parlament.

Die Westminster-Brücke wurde erst am Nachmittag wieder geöffnet – und war bald mit Blumen übersät. Überall in Westminsters Straßen blinkte das Blaulicht der Polizei. Kamerateams aus aller Welt zogen nach Westminister Abbey.

Im Parlament selbst waren bis in die Abendstunden hinein Abgeordnete, parlamentarische Mitarbeiter und Zufallsbesucher festgehalten worden. Am Donnerstag aber waren die Politiker wieder früh zurück auf ihren Plätzen. Sie sammelten sich auf den grünen und roten Lederbänken zu einer trotzigen Sondersitzung, während auf dem Vorplatz zum House of Commons Beamte in hellblauen Overalls nebeneinander übers Pflaster krochen, um den Tatort Zentimeter für Zentimeter abzusuchen. Dort hatte Khalid Masood den unbewaffneten Polizisten Keith Palmer erstochen, bevor er selbst, im Lauf zum Eingangsportal des Unterhauses, von zwei herbeigeeilten Sicherheitsleuten niedergeschossen worden war.

Attentäter in England geboren

Drinnen im Unterhaus teilte Regierungschefin Theresa May mit, dass der Attentäter kein von außen angereister Killer, sondern gebürtiger Brite war. Vor einigen Jahren, erklärte May weiter, sei der Mann von den Geheimdiensten „aus Sorge über gewalttätigen Extremismus“ einmal unter Lupe genommen worden. Er habe aber als „Randfigur“ gegolten. Später ließen die Überwacher offenbar von ihm ab. Der Tageszeitung „Guardian“ zufolge befand sich Masood „nicht unter den 3000 Top-Gesuchten“. In den letzten Jahren verlor sich seine Spur.

Zum Zeitpunkt der Enthüllungen durch die Premierministerin am Donnerstagmorgen hatten bewaffnete Polizeieinheiten bereits sechs Häuser in London und Birmingham durchsucht und acht Personen verhaftet. Augenzeugen berichteten, Polizeibeamte hätten Türen eingetreten, Leute abgeführt und „Gerätschaften“ in die betreffenden Wohnungen getragen. „Wir gehen einmal davon aus“, ließ May die Abgeordneten wissen, „dass der Angreifer von islamistischer Ideologie inspiriert worden ist.“ Wie oft in solchen Fällen, reklamierte die Terrorgruppe Islamischer Staat den Täter als einen der ihren. Die britischen Behörden hielten sich einstweilen noch zurück. Mark Rowley, der Chef der Antiterrorabteilung bei Scotland Yard, bestätigte lediglich, dass es „vermutlich einen Zusammenhang mit Islamismus“ gebe. Ansonsten, sagte Rowley, habe London „einen Tag erlebt, auf den wir uns lange vorbereitet haben und von dem wir alle hofften, dass er nie kommen würde“.

In der Tat herrscht im Vereinigte Königreich seit Jahren die Alarmstufe „severe“ – was bedeutet, dass ein Terrorangriff „höchst wahrscheinlich“ ist. Den Geheimdiensten zufolge konnten immerhin in den letzten drei Jahren „durch gute Informationen“ mindestens zwölf Anschläge verhindert werden. London glaubt, durch ein besonders enges Netz von Informanten und Agenten in einer besseren Lage zu sein als zum Beispiel die französischen und belgischen Kollegen. Auch dass striktere Waffengesetze in Kraft sind als in vielen anderen Staaten der Welt, wird als Vorteil betrachtet im Kampf gegen die Gewalt. Dennoch, räumt man beim inländischen Geheimdienst MI5 ein, verfüge kein Geheimdienst Europas über die nötigen Ressourcen, um jeden Verdächtigen permanent zu beschatten.

Proteste gegen Gewalt auf dem Trafalgar Square

Allein in Großbritannien gibt es Hunderte Rückkehrer britischer Nationalität aus dem syrischen und irakischen Kriegsgebiet. Er persönlich, sagte MI5-Direktor Andrew Parker, habe noch nie einen so dramatischen Anstieg der Zahl von Verschwörungen und Attentatsplänen erlebt „wie in den letzten drei Jahren“. Dennoch gehe er davon aus, dass seine Leute „die meisten Anschlagsversuche in unserem Land aufspüren und stoppen“ könnten.

Doch die meisten britischen Terrorexperten sind sich einig, dass es unmöglich sei, einen Überfall wie den in Westminster zu vereiteln. Der Attentäter habe schlicht „seine Wut ausgelassen an Männern, Frauen und Kindern“, erklärte im Unterhaus Theresa May mit bebender Stimme. Die Attacke sei „ein Angriff auf freie Menschen überall“. Über dem Palast von Westminster war am Morgen, wie auf fast allen öffentlichen Gebäuden, der Union Jack auf halbmast aufgezogen worden. Auch im Buckingham-Palast, nicht weit entfernt, wurde getrauert. Königin Elizabeth II. versicherte, sie stehe fest an der Seite der Opfer dieser „grässlichen Gewalt“.

Dass die Millionenmetropole London allen Versuchen terroristischer Einschüchterung die Stirn bieten werde, war jedenfalls die zentrale Botschaft, die Premierministerin May an diesem Tag anderen potenziellen Gewalttätern zukommen lassen wollte. „Wir fürchten uns nicht. Und wir werden nie wanken in unserer Entschlossenheit im Angesicht des Terrorismus.“

So sahen das auch mehrere Tausend Londoner, die dem Aufruf des Bürgermeisters Sadiq Khan folgten und sich am Donnerstagabend für eine Kundgebung auf Trafalgar Square versammelten. Solidarität gegen Gewalt, sagte Khan dort, sei sein dringlichster Wunsch: „London ist die tollste Stadt der Welt. Und gemeinsam stellen wir uns denen entgegen, die unsere Londoner Lebenweise zerstören wollen.“