Nachdem in Wertheim in der Nacht zum Sonntag eine Turnhalle in Flammen aufging, die als Notquartier für Flüchtlinge vorgesehen war, werden in dem Ort schwere Vorwürfe laut. Sie richten sich auch gegen die Landesregierung. Es zeichnet sich ab: Der dort entstandene Schaden ist auch politischer Art.

Wertheim - Die Hände in den Taschen, ein weißes Handtuch um den Hals gelegt, steht der junge Mann auf dem Bürgersteig und schüttelt den Kopf. Er kommt gerade aus dem benachbarten Fitnessstudio, dort haben alle darüber geredet, dass in der Nacht die Turnhalle abgefackelt wurde. Einer habe dafür sogar Verständnis gezeigt, sagt er leise. Er nicht. Er kann es nicht fassen. "Diese Hurensöhne, die das getan haben", sagt er. "Dass so etwas bei uns passiert." Die Kumpels stimmen ihm zu. "Total unethisch sei das", schimpft ein junger Schlacks mit Halskette. "Voll asozial!" Als er am Sonntagmorgen auf sein Handy geschaut habe, "war das Facebook vollgepumpt". Von überall her hätten sich Leute gemeldet und darüber aufgeregt, was in Wertheim passiert ist." Der Junge aus dem Fitnessstudio nickt und sagt: "Scheiß Nazis!"

Die Sprache ist deutlich, aber klar. Die Menschen, die am Sonntagvormittag zur ausgebrannten Turnhalle im Stadtteil Reinhardshof kommen, äußern ihre Bestürzung über den Brandanschlag. Die Ermittlungen laufen zwar noch, doch die Feuerwehr hat keinen Zweifel, dass das Feuer vorsätzlich gelegt wurde. "Da war Brandbeschleuniger im Spiel", sagt Stadtbrandmeister Ludwig Lermann. Offenbar haben der oder die Täter eine Hintertür der Halle aufgebrochen, um in dem Gebäude Feuer zu legen. Dort befanden sich 330 neue Feldbetten für Flüchtlinge, die Mitarbeiter des Technischen Hilfswerks, des Deutschen Roten Kreuzes, der Feuerwehr und Bundeswehrangehörige den ganzen Samstag über aufgestellt hatten. Man wollte rechtzeitig fertig sein, um in der Halle die vom Innenministerium kurzfristig anvisierten 300 zusätzlichen Flüchtlinge beherbergen zu können. "Hinterher haben wir noch ein Bier betrunken und sind nach Hause gegangen", sagt der Stadtbrandmeister. Wenige Stunden später, um 0.50 Uhr ging bei der Feuerwehr der Alarm ein. Als die Wertheimer Wehr kurz darauf mit 60 Mann und mehreren Fahrzeugen am Ort des Geschehens war, gab es nichts mehr zu retten. Die Flammen hatten sich zwischen den Feldbetten und den ausziehbaren Holztribünen ausgebreitet.

Hässliche Löcher klaffen in der Fassade

Am anderen Morgen klaffen hässliche Löcher in der Fassade. Das Gebäude ist einsturzgefährdet und muss abgerissen werden. Unmittelbar daneben grenzt die kleine Kirche der evangelischen Michaels-Gemeinde an. Am Sonntagmorgen stand ein Gottesdienst auf dem Plan. Direkt gegenüber steht ein großes Altenheim. "Was ist denn passiert?", fragt eine Bewohnerin, die besorgt auf die auf die Gruppe junger Leute zutritt, die immer noch auf dem Bürgersteig diskutiert. "Feuer! Ein Brandanschlag!" bekommt sie zur Antwort. Die alte Dame schlägt die Hände vors Gesicht und geht zurück ins Haus.

Die Stadt ist schockiert. "Bisher stand Wertheim in den Medien immer für Hochwasser. Jetzt verbindet man mit dem Ort einen Brandanschlag auf eine Flüchtlingsunterkunft!", sagt ein Anwohner in bitterem Ton. "Wir sind gebrandmarkt!" Das schmerzt viele. Ganz besonders Oberbürgermeister Stefan Mikulicz (CDU), der seit 2003 an der Spitze der nördlichsten Stadt von Baden-Württemberg steht. Eilends hat er am Sonntagvormittag eine Pressekonferenz einberufen, um seine Bestürzung zu äußern. Die ganze Nacht über hat er kaum ein Auge zugetan; schon kurz nach der Feuerwehr war er am Brandort. Nach der Pressekonferenz tritt er vor die Halle, in der die Feuerwehr provisorisch untegebracht ist. Ein älterer Mann kommt auf ihn zu und fängt an zu weinen. Mikulicz, groß gewachsen, braun gebrannt, ist ähnlich zumute. Äußerlich wahrt er Haltung, innerlich bebt er. Die Erregung spricht aus seinen Worten. Er wirkt wie einer, der das Gefühl hat alles getan zu haben und doch nichts verhindert haben zu können. Nicht diesen Anschlag. Dabei hat er Unheil kommen sehen.

Die Ereignisse überschlugen sich

"Leben, wo andere Urlaub machen", lautet ein Slogan der 24 500 Einwohner-Stadt an der Tauber. Das sollte auch für die Flüchtlinge kommen. Ausdrücklich wirbt die Stadtverwaltung im Netz für eine Willkommenskultur, informiert über die rechtliche Situation und gibt Tipps, was man für Flüchtlinge tun kann. Ein Verein "Willkommen in Wertheim" hat sich in Wertheim gegründet. Für kommenden Mittwoch hat Mikulicz die örtlichen Vereine eingeladen, um Freizeit- und Sportprogramm für Flüchtlinge zu organisieren. Vieles war für vorbereitet für den Zeitpunkt, wenn auf dem Gelände des bisherigen Außenstelle der Polizeiakademie, wie von der Landesregierung beschlossen, eine Landeserstaufnahmeeinrichtung (LEA) für 600 Flüchtlinge eröffnet werden solle. Ursprünglich war das für 2016 geplant. Doch dann überschlugen sich die Ereignisse. Angesichts der stark steigenden Flüchtlingszahlen wurde der Termin auf den 15. Oktober vorgezogen.

Vergangenen Sonntag dann, gegen 12.30 Uhr, erhielt Oberbürgermeister Mikulicz per whatsapp die Mitteilung, dass bereits am Sonntagnachmittag 600 Flüchtlinge in zwei Gebäuden der Polizeiakademie unterkommen sollten. Mikulicz fühlte sich überfahren. In Windeseile richteten Feuerwehr, Rotes Kreuz und Technisches Hilfswerk eine Behelfsunterkunft ein. Als am Sonntagabend die ersten der 600 Flüchtlinge eintrafen, "konnten wir bereits Spielzeug an Flüchtlingskinder verteilen", berichtet der Stadtbrandmeister.

Der Oberbürgermeister warnte vor einem „Kollaps“

Dasselbe Bild in den darauffolgenden Tagen. Dutzende Ehrenamtliche brachten sich ein, um die Flüchtlinge zu versorgen und zu betreuen. Auch Migranten, die sich als Dolmetscher anboten und die Security Leute. "Eine großartige Leistung", wie der Oberbürgermeister betont. Dann jedoch kam aus Stuttgart die Nachricht: Weitere 300 Flüchtlinge sollen in Wertheim untergebracht werden. Mikulicz sandte einen Hilferuf in Richtung Landeshauptstadt aus schreib einen "Brandbrief" an Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne), Innenminister Reinhold Gall und Integrationsministerin Bilkay Öney (beide SPD), in dem er vor einem "Kollaps" warnte. Tenor: "Wir sind mit unseren Kräften am Ende." Unterstützung kam von Regierungspräsident Johannes Schmalzl. Doch es half nichts. Das Innenministerium ließ nicht mit sich reden. Der Oberbürgermeister empfand das als "rücksichtlos". Am Samstag reiste kurzfristig die Integrationsministerium an. Sie besuchte die LEA, schüttelte Hände, vermied aber irgendwelche Zusagen. "Haben Sie sich schon mal überlegt wie das gehen soll - 900 Flüchtlinge in einem Stadtteil mit 1000 Einwohnern?", fragt er den Journalisten, der ihm am Sonntagvormittag nach seiner Gefühlslage befragt. Mikulicz sagt es nicht, aber es ist unschwer zu erraten, was er der Landesregierung vorhält - eine verfehlte Planung. Er bemüht sich um Haltung: "Wir lassen uns nicht irritieren." Wertheim werde Flüchtlingen weiterhin mit Wohlwolle begegnen.

Viele Russlanddeutsche leben hier

Die Geschichte des Reinhardshofs hoch über Wertheim ist bewegt. Früher befand sich hier ein Flughafen der Wehrmacht. In den fünfziger Jahren Krieg übernahmen die Amerikaner das Gelände. 1992 gaben sie die Kasernen auf, ein Jahr später wurde hier die Außenstelle der Polizeiakademie des Landes eingerichtet, die jetzt - ebenfalls früher als geplant - nach Böblingen verfrachtet wurde. Parallel entstanden Wohnungen auf dem Reinhardshof. Heute wohnen viele Russlanddeutsche hier. "Es ist unser internationalster Stadtteil", sagt Stadtbrandmeister Lermann. Mikulicz lobt ausdrücklich das "gute soziale Klima". Der Reinhardshofs bilde mit dem dazugehörenden Wartberg "ein gut funktionierendes Wohngebiet". Ausgerechnet an diesem Sonntag, dem Tag des Brandanschlags, findet das Fest zum 50-jährigen Bestehen des Stadtteils statt.

Die Gruppe junger Männer vor der ausgebrannten Turnhalle hat sich inzwischen entfernt. Einige Flüchtlinge aus der wenige hundert Meter weiter gelegenen LEA kommen vorbei; viele haben noch nicht mitbekommen, was sich in der Nacht in ihrer Nachbarschaft ereignet hat. Ein älterer Herr steht fassungslos vor dem Gebäude. Er ist seit Freitag im Ruhestand. Davor hat er 20 Jahre für die US-Amerikaner und danach 20 Jahre für die Polizeiakademie gearbeitet und war regelmäßig Streife gegangen. "Jeden Quadratmeter" der Turnhalle kenne er. "Das geht einem an die Nieren", sagt er und kann nicht verstehen, warum das neu eingerichtete Gebäude in der Tatnacht nicht bewacht wurde: "Wir leben hier nicht auf einer Insel der Glückseligen."

Ein anderer Mann verharrt lange schweigend vor der Brandruine. Seit fast 70 Jahren lebt er Wertheim. Ursprünglich stammt er aus dem Sudetenland. Er zählte zu den ersten von 1700 Vertriebenen, die 1946 hier eine neue Heimat fanden. Auch das gehört zur Geschichte des Reinhardshofs.