Ann Cotten zu Gast in Stuttgart Foto: Yves Noir

Der Abend in der Robert-Bosch-Stiftung in Stuttgart ist Experiment, Uraufführung, Performance. Die neue Chamisso-Preisträgerin Ann Cotten sitzt, ganz konzentriert auf ihren Text, an einem langen Pult, das sie sich mit einem Musiker teilt, der sich über einen Laptop beugt. Die Worte der Dichterin vermengen sich in einer unwirklich intensiven Szenerie mit dem Klang der Maschinen.

Der Abend ist Experiment, Uraufführung, Performance. Ann Cotten sitzt, leicht abgewandt, ganz konzentriert auf ihren Text, an einem langgestreckten Pult, das sie sich mit DEEF teilt – so nennt sich der Musiker, der sich über einen Laptop beugt, sein Arsenal an Effektgeräten, sein „Modularsystem“ zur Seite. Über die ganze Breite des Raumes zieht sich ein gewellter Vorhang, das Licht, das auf ihn fällt, wechselt die Farbe. Immer wieder fließt Kunstnebel in den Raum, die Worte der Dichterin vermengen sich in dieser unwirklich intensiven Szenerie mit dem Klang der Maschinen.

Cotten lauscht, reagiert, beide Ebenen des Geschehens sind präzise aufeinander abgestimmt. Einmal wirkt ihre Sprache als reiner Klang, rhythmisiert, zerfällt in Bruchstücke, Wiederholungen, dann wieder taucht Sinn in diesen Worten auf. Sinn, der springt, der konkrete Szenarien heraufbeschwört, dann ins Essayistische, Assoziative oder Surreale schwenkt.

Gedankenflüge, Montagen, Erkundungen – Ann Cotten ist unterwegs, und sie nimmt alles mit, fügt alles ineinander, lässt alles aufgehen im offenen, entregelten Fluss ihres Sprechens. „Positives Denken“, sagt sie nun zum Mikrofon, während sie durch ihre Seiten blättert, „ist nicht möglich. Es liegen zu viele unter den Trümmern“. Später dann: „Ihr seid in Raumanzüge aus Moneten gepackt“.

„Ausgespachtelt“ heißt der Text, den Cotten eigens für ihre Lesung in Stuttgart schrieb. Mit DEEF arbeitete sie häufig schon zusammen, beide kennen sich seit Wiener Studienzeiten. Anders als bei früheren Auftritten war es nun aber der Musiker, der mit seiner elektronischen Komposition eine Vorlage lieferte, über die die Autorin ihren Sprachfluss legte. 30 Minuten vergehen, während Ann Cottens Worte durch DEEFs Klangwelt geistern. Schließlich hebt die Musik wieder an, die Stimme schweigt, der Komponist erfindet sein eigenes Stück vor seinen Hörern von neuem, anders. Ein letzter Ton, dann Stille, dann Applaus.

Sieben Jahre sind vergangen, seitdem Ann Cotten mit „Fremdwörterbuchsonette“ ihr erstes Buch veröffentlichte – eindeutig einem Genre zuordnen lassen sich ihre Arbeiten seither nicht mehr. Die Grenze zwischen Lyrik und Prosa verschwimmt auch in ihrem jüngst Band „Der schaudernde Fächer“, erschienen 2013 bei Suhrkamp: Er enthält Erzählungen, die keine sind, Texte, die sich wiederum als Ausflüge, Erkundungen, Selbstinszenierungen und Selbstbefragungen einer Autorin entpuppen, die dabei nie ganz sichtbar wird, immerzu kreist, sich verausgabt, sich entzieht.

Ann Cotten verbrachte Zeit in Japan, von der Kunst der Oberfläche, die sie dort entdeckte, fühlt sie sich beeinflusst. Nach ihrer Lesung spricht sie, in diesem leisen Ton, der ohne zu stocken von einem Gedanken zum nächsten eilt, über ihre Ideen und Vorbilder, über spätromantische Musik, über Oscar Wilde und Oswald Wiener.

Konzepte der Dekadenz, des Fin de Siècle möchte sie aktualisieren, sagt sie, synästhetische Effekte in ihrem Schreiben abbilden. Für Musik interessiert sie sich sehr, für die musikalische Avantgarde der Nachkriegszeit wenig: An ihr nimmt sie vor allem hierarchische Vorstellungen war. Aber Cotten will Kunst nicht als Anspruch, Aufgabe, Moral verstehen. Sie sieht sich als Ästhetin: „Ich interessiere mich sehr für Schönheit.“

Dass die Robert-Bosch-Stiftung, im März bereits, den Adelbert-von-Chamisso-Preis an Cotten verlieh, überrascht, scheint ungewöhnlich, wagemutig. Bestimmt war dieser Preis zunächst für Autoren, die in deutscher Sprache schreiben, obwohl dies nicht ihre Muttersprache ist. Ann Cotten wurde 1982 in den USA geboren, im landwirtschaftlich geprägten Bundesstaat Iowa, die Sprache ihrer frühen Kindheit ist also das Amerikanische. Aber schon mit fünf Jahren zog sie mit ihrer Familie nach Wien, in eine Stadt, die sie mit ihrer literarischen Tradition weitaus mehr prägte als der Mittlere Westen der Vereinigten Staaten.

Bereits im Frühjahr des Jahres, bevor sie in München den Chamisso-Preis entgegennahm, reiste Ann Cotten nach Stuttgart. Sie selbst wählte die neue Stadtbibliothek, die klaren, hellen Räume, die der Architekt Eun Young Yi für die Bücher schuf. Hier ließ sich die Preisträgerin fotografieren, in der großen Leere des Mittelraumes, versunken über Büchern, ausgestreckt vor den Regalen, umgeben von Weiß: eine junge Frau, die ganz auf sich selbst konzentriert wirkt, fast scheu, und die sich doch zugleich auch sehr bewusst, provokant und irritierend in Szene setzt – Dichterin und weiblicher Dandy, ganz im Sinne ihrer Vorbilder.