Nächtliche Sitzungen im alten Reichstagspräsidentenpalais haben die Unterhändler schon hinter sich – an diesem Sonntag folgt die entscheidende. Foto: dpa

Viel ist von Angela Merkel nicht zu hören gewesen während der Sondierungsgespräche. Nun, da am Donnerstagabend die entscheidende Sitzung ansteht, schlägt die Stunde der Kanzlerin. Es geht schließlich auch um ihre politische Zukunft.

Berlin - Acht öffentliche Termine weist Angela Merkels Kalender für die vergangenen vier Wochen auf. So viel schafft sie normalerweise in vier Tagen oder weniger. Das Regieren und Repräsentieren läuft derzeit auf Sparflamme. Nur wenn es gar nicht anders geht – wie an diesem Mittwochnachmittag, als die Kanzlerin kurz der Bonner Weltklimakonferenz ihre Aufwartung machen muss –, gibt es einen Eintrag in der sonst blütenweißen Agenda. Ihre Hauptarbeit besteht gerade nun einmal darin, eine neue Koalition zu formen, die sie zum vierten Mal zur deutschen Regierungschefin wählt. In diese Aufgabe fließt alle politische Anstrengung, einzig die Morgenlage mit den engsten Mitarbeitern des Kanzleramtes erinnert an ihre normale Regierungsroutine. Spätestens zur Mittagszeit wird sie zum alten Reichstagspräsidentenpalais gefahren, wo seit mehr als drei Wochen Sondierungsgespräche stattfinden. Genau mitgezählt hat niemand, aber eine dreistellige Zahl von Verhandlungsstunden hat die Kanzlerin locker schon auf dem Buckel.

Angela Merkel hält sich zurück

Mit welch voller Kraft sie politisch Kurs gesetzt hat Richtung Jamaika, ist der Öffentlichkeit bisher weitgehend verborgen geblieben. Ein einziges Mal ist die CDU-Vorsitzende vor die in der Kälte ausharrenden Journalisten getreten. Nach den ersten eineinhalb Sondierungswochen, als sich CSU, FDP und Grüne bereits in Interviews wie die Kesselflicker stritten, glaubte sie „nach wie vor, dass wir die Enden zusammenbinden können, wenn wir uns mühen und anstrengen“. Dann wurden zwei Sätze aus einer Unionsfraktionssitzung transportiert, wo die Kanzlerin ein Bekenntnis zur ersten schwarz-gelb-grünen Koalition im Bund ablegte: „Ja, ich will das versuchen.“ FDP-Chef Christian Lindner bekam noch eine mit, da er laut über ein Scheitern nachgedacht hatte: „Es ist nicht klug, ständig öffentlich das Stichwort Neuwahl zu nennen.“

Mehr ist da für das deutsche Nachwahlpublikum nicht gewesen. Das mag überraschen, weil es ja letztlich um ihr Amt geht. Gerade bei möglichen Neuwahlen wäre ein Szenario denkbar, in dem die teils frustrierte CDU-Basis ihre Vorsitzende vorher in die Wüste schickt – bei einem Scheitern der Jamaikaverhandlungen könnte ihre bemerkenswerte zwölfjährige Kanzlerschaft ziemlich abrupt enden. Die große innerparteiliche Kritik nach dem mauen Wahlergebnis aber ist schon wieder abgeflacht. Und viele Christdemokraten betonen, dass binnen kurzer Zeit gar keine attraktive personelle Alternative für eine weitere Bundestagswahl zur Verfügung stünde und es auch dann wieder auf eine Spitzenkandidatin Merkel zuliefe. Strategisch heikel bleibt ihre Lage ohne realistische Machtoption jenseits von Schwarz-Gelb-Grün dennoch.

Angst vor dem Jobverlust hat sie offenbar nicht

Kommentatoren mag das beschäftigen, die Kanzlerin selbst – wenn man ihrem direkten Umfeld glauben mag – nicht: „Sie ist vollauf damit befasst, eine stabile Regierung für Deutschland zu bilden.“ Nicht nur, dass Angst vor dem Jobverlust offenbar keine Kategorie zu sein scheint, mit der sich Merkel lange aufhält: Von „Freude“ und „Lust“ ist bei ihren Mitstreitern sogar die Rede, da in den Sondierungen so viel über wichtige Zukunftsthemen wie Bildung, Digitalisierung, Klimaschutz und das Wirtschaften im 21. Jahrhundert geredet wird. Die Physikerin betrachtet es demnach als „Herausforderung, die Quadratur des Kreises hinzubekommen“, die sich aus den so grundverschiedenen politischen Kulturen und Konzepten der beteiligten Parteien ergibt.

Das gelingt nach Ansicht der „Chefin“, wie sie der Grüne Robert Habeck schon einmal angesprochen hat, am besten mit Zurückhaltung. Die wiederum hat ihr den Vorwurf eingetragen, die Gespräche ergebnislos vor sich hinplätschern zu lassen, nur passiv herumzusitzen, sich zu selten inhaltlich einzuschalten und damit auch das Parteiprofil der nächsten Regierung preiszugeben, in der die CDU nicht nur das Bindegewebe sein dürfe. Überliefert sind tatsächlich nur drei inhaltliche Festlegungen der Kanzlerin: Es wird mit ihr keinen eigenen Haushalt für die Eurozone geben, die schwarze Null ist Merkel heilig, und eine von ihr geführte Regierung wird den allmählichen Abschied von der Kohleverstromung nicht Kohleausstieg nennen, weil das „Grünen-Sprech“ sei. Nicht gerade viel für jemanden, der soeben wieder zur mächtigsten Politikerin der Welt gekürt wurde.

Unsicherheitsfaktor CSU

Die Kanzlerin ficht das nicht an. Für sie ist der flache Ball zu Beginn Teil ihrer Verhandlungsstrategie gewesen. Der größte Partner trage nun mal die größte Verantwortung für das Gelingen, lautet das Motto der Merkel-Truppe, eigene Erfolge herauszustellen und damit Niederlagen anderer zu verbreiten, wäre nicht sinnvoll gewesen, wo doch erst Vertrauen aufgebaut werden musste: „Sie hätte natürlich laut darüber jubeln können, dass die garantierte Ganztagsbetreuung an Grundschulen kommt wie im CDU-Wahlprogramm versprochen – es hätte aber dazu geführt, dass die anderen Parteichefs Forderungen nachlegen.“

Ihre zurückgenommene Rolle endet spätestens an diesem Donnerstag. In der CDU wird dazu noch einmal das inzwischen verpönte Bild von „Mutti“ bemüht, die die Kinder zur Ordnung ruft, die nun lang genug im Sandkasten um die Förmchen gestritten haben. Merkel glaubt daran, die Patchworkfamilie zusammenbringen zu können. Mit FDP-Chef Christian Lindner sei im Vertrauen inzwischen vieles möglich, heißt es. Zur grünen Spitzenfrau Katrin Göring-Eckardt pflegt sie ohnehin ein gutes Verhältnis. Als verbliebener Unsicherheitsfaktor gilt Merkel ausgerechnet die Schwesterpartei CSU – weniger deren Vorsitzender Horst Seehofer als die Haudraufs Andreas Scheuer und Alexander Dobrindt: Spielen sie ihrem bayerischen Publikum nur gut vor, wie wenig vom bösen Grün sie auf Jamaika zulassen würden? Oder ist es echte Empörung, die noch zur Absage der Reise führen kann?

Ins Finale mit der Kunst des Kamels

Um 18 Uhr beginnt jedenfalls die „Nacht der langen Messer“, wie entscheidende Sitzungen mit absehbar schmerzhaften Kompromissen im Politjargon genannt werden. Jetzt kommt es auf die Kanzlerin an. Sie muss die Interessenkonflikte auflösen, reine Formelkompromisse vermeiden, den Vereinbarungen die Handschrift ihrer Partei geben und trotzdem dafür sorgen, dass sich alle als Gewinner fühlen. Ihr vielleicht stärkstes persönliches Interesse wird sein, sich in der Europapolitik, die vor allem sie operativ verantwortet, nicht durch zu viele negative Festlegungen einmauern zu lassen. Für die Gespräche mit Emmanuel Macron & Co. braucht sie eigenen Spielraum.

Mit möglichen Antworten auf die offenen Streitfragen hat sie sich von Kanzleramtschef Peter Altmaier, ihrer rechten Hand in den Gesprächen, wappnen lassen. Nun muss sie sie nur noch gegenüber Seehofer, Lindner und dem grünen Spitzenduo Göring-Eckardt/Cem Özdemir durchsetzen.

Mit der Nacht kommt die Macht

Das kann sie. Wie keine andere kennt Angela Merkel solch zugespitzte Entscheidungslagen, in denen viel auf dem Spiel steht und so lang gerungen werden muss, bis die Einigung steht. Vorzugsweise in der Nacht. Sie hat in Minsk mit Wladimir Putin verhandelt, bis es wieder hell wurde, um die Waffen in der Ostukraine zum Schweigen zu bringen. Die aktuelle Koalition wurde um fünf Uhr morgens aus der Taufe gehoben. Und in Brüssel hat die Kanzlerin wegen Griechenland, Rettungsschirm oder Bankenunion so häufig durchgemacht und dabei so oft ihre Interessen durchgesetzt, dass mürbe verhandelte Regierungsvertreter anderer Länder ihr diesbezüglich fast so etwas wie Bewunderung entgegenbringen. In der Nacht ist Angela Merkel eine Macht.

Nachtruhe braucht auch die Kanzlerin, doch hat sie einmal verraten, über „gewisse kamelartige Fähigkeiten“ zu verfügen und Schlaf wie das Wüstentier Wasser vorab speichern zu können. Was läge da näher als zu vermuten, Merkel wolle diese Kunst im Jamaika-Sondierungsfinale bewusst einsetzen, bis ihre Gegenüber erschöpft die Waffen strecken? Das, so versichern Getreue, sei keineswegs der Fall, der Termin für die Entscheidungsnacht ein gemeinsamer Beschluss der Chefunterhändler gewesen. Auch Merkel kann sich demnach Besseres vorstellen, als nachts um drei durch den Raum zu schwanken. Aber sie tut es wohl mit dem Selbstbewusstsein, dabei noch klarer denken zu können als der Rest.