Seine Unterstützer feiern den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan wie einen Star. Foto: dpa

Warum stimmten so viele Wahlberechtigte in Berlin gegen die Verfassungsreform von Präsident Erdogan? Und waren die Stimmen aus Deutschland für ihn wahlentscheidend? Eine Analyse der Ergebnisse des türkischen Referendums.

Stuttgart - Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat sich in seiner Kampagne vor dem Referendum viel um die türkischen Wahlberechtigten im Ausland gekümmert. Der Machthaber hat versucht, durch persönliche Auftritte sowie durch Auftritte von Kabinettsmitgliedern in Deutschland, aber auch in anderen EU-Ländern, die Stimmung zu seinen Gunsten zu beeinflussen. 58,2 Millionen Wahlberechtigte waren beim Referendum zur Abstimmung aufgerufen: 55,3 Millionen in der Türkei, aber eben auch 2,9 Millionen im Ausland. Und die in der Diaspora lebenden Türken haben sich insgesamt gut beteiligt. Eine Analyse der ausgezählten Stimmen zeigt: Offensichtlich haben ihm die Stimmen der Auslandstürken maßgeblich geholfen, das hauchdünne „Ja“ der Zustimmung zu seinen geplanten Verfassungsänderungen zu bekommen. Ein Überblick über zentrale Fragen nach dem Referendum. Wo sind die Hochburgen von Erdogan in Deutschland und warum fallen die Ergebnisse bundesweit so unterschiedlich aus? In Deutschland konnten die Stimmberechtigten in der türkischen Botschaft in Berlin sowie in zwölf Konsulaten und Generalkonsulaten abstimmen. In der Hauptstadt Berlin erzielten die Ja-Sager mit 50,1 Prozent den bundesweit knappsten Vorsprung vor den Nein-Votierern mit 49,9 Prozent. Am klarsten setzte sich das Pro-Erdogan-Lager mit 75,9 Prozent im Ruhrgebiet (Wahllokal Generalkonsulat Essen) durch. In Nordrhein-Westfalen erzielte Erdogan somit die höchsten Zustimmungsraten.

Ein entscheidendes Kriterium ist die Mobilisierung durch die jeweiligen Anhänger. In Berlin hat das Nein-Bündnis offenbar eine gute Arbeit gemacht: Unermüdlich, so heißt es, habe die Berliner Gruppierung der Oppositionspartei CHP für ihre Sache geworben. In der Hauptstadt mögen sich die Deutsch-Türken auch besser integriert fühlen als im Rest der Republik. Erleichtert wurde die Mobilisierung durch die Infrastruktur: Die Wahllokale waren generell in Berlin viel einfacher zu erreichen als andernorts – viele Türken konnten mit der U-Bahn zur Wahl fahren. In Stuttgart zum Beispiel hatten sie unter Umständen eine Anreise von mehr als hundert Kilometern zu bewältigen.

Im Ruhrgebiet wiederum hat das Erdogan-Lager eine gute Organisation hinbekommen, mit günstigen Mitfahrgelegenheiten etwa. Das half. Zudem hat es dort wohl mehr Geld investiert, das den Gegnern nicht zur Verfügung stand.

War das Votum in Deutschland entscheidend für das Gesamtergebnis? Inwieweit das klare Ja in Deutschland Erdogan den Gesamtsieg beschert hat, ist offen – entsprechende Rechnungen seien schon wegen der möglicherweise unrechtmäßigen Stimmabgaben in der Türkei schwierig, heißt es unter Fachleuten. Das Resultat hierzulande war auf jeden Fall ein wahlentscheidendes Kriterium. Hätte sich aber das Nein-Lager in Deutschland durchgesetzt, hätte dies den Erdogan-Erfolg wahrscheinlich auch nicht verhindert. Welche Rolle spielen die deutschen Türken? Deutschland stellte bei diesem Referendum unter allen EU-Staaten mit Abstand die meisten Wahlberechtigten. Voraussetzung für die Wahl war die türkische Staatsbürgerschaft. Gut eineinhalb Millionen der hier lebenden Türken sind türkische Staatsbürger, 1,43 Millionen von ihnen sind im stimmfähigen Alter und waren daher stimmberechtigt. 660 666 Wähler haben davon Gebrauch gemacht. Davon haben sich gut 63 Prozent für die Verfassungsänderungen ausgesprochen, und knapp 37 Prozent waren dagegen. Damit sind also überproportional viele deutsche Türken Erdogan gefolgt. In den Niederlanden lag die Zustimmung bei knapp 71 Prozent, in Österreich bei 73 Prozent, in Belgien sogar bei knapp 75 Prozent. Wie ist die relativ geringe Wahlbeteiligung einzuschätzen? Die Wahlbeteiligung wird mit 46,7 Prozent angegeben. Bei der jüngsten Parlamentswahl in der Türkei im November 2015 lag die Beteiligung in Deutschland bei 41 Prozent. Schon damals konnte Erdogan hier einen Erfolg verbuchen: Seine AKP kam auf 59,7 Prozent der Stimmen – in der Türkei nur auf 49,5 Prozent. Welche Rolle spielten die Stimmen der wahlberechtigten Türken im Ausland? Wenn man unterstellt, dass es keine Unregelmäßigkeiten bei der Auszählung der Stimmen gab, ist klar, dass Erdogan die Stimmen aus dem Exil geholfen haben. Insgesamt fuhr das „Ja“-Lager letztlich einen Vorsprung von 1,38 Millionen Stimmen ein. Laut Wahlkommission stimmten 25,157 Millionen Wahlberechtigte für die weitreichenden Verfassungsänderungen und 23,777 Millionen Stimmberechtigte dagegen. Rund die Hälfte der Ja-Stimmen, die Erdogan den Sieg einbrachten, kamen von den Auslandstürken in den mitteleuropäischen Ländern mit großer türkischstämmiger Bevölkerung. Deutschland, Frankreich, die Niederlande, Belgien und Österreich steuerten knapp 700 000 „Ja“-Stimmen bei. Wenn man die Nein-Stimmen abzieht, lieferten allein diese Länder mit einem traditionell recht hohen Anteil von Bürgern mit türkischem Hintergrund 325 000 Netto-Ja-Stimmen. In welchen EU-Mitgliedsstaaten bekam Erdogan Gegenwind? Die „Nein“-Stimmen machten in Großbritannien knapp 80 Prozent aus. Dort stimmten mehr als 28 000 Türken gegen die Pläne von Erdogan. Auch in Italien stimmte mit 60 Prozent eine Mehrheit mit „Nein“. Ansonsten erzielte die Opposition gegen Erdogan noch in Spanien, Schweden, Irland, Ungarn, Griechenland, Finnland, Tschechien und Bulgarien Abstimmungserfolge. Allerdings sind in vielen dieser Länder die Zahlen der Stimmberechtigten sowie die der abgegebenen Stimmen niedrig. Wie ist der Beitrag der türkischen Gemeinde in Deutschland im Vergleich zu anderen türkischen Gemeinden international zu sehen? In Deutschland gab es 1,43 Millionen Stimmberechtigte, Frankreich stellte 326 000 Stimmberechtigte, Österreich lediglich 108 000, die Niederlande 252 000 und Belgien 137 000. Diese Zahlen spiegeln wider, wie stark ausgeprägt die türkische Arbeitsmigration in absoluten Zahlen über Jahrzehnte nach Deutschland war. Selbst in Großbritannien gab es nur knapp 93 000 Stimmberechtigte. schoell.jonas [3:52 PM]