16 alte Eisenbahnwaggons bieten einer kleinen Künstlerkolonie am Nordbahnhof Unterschlupf. Klicken Sie sich durch die Bildergalerie. Foto: Peter-Michael Petsch

Eidechsen verschaffen Künstlern am Nordbahnhof Galgenfrist – Folgeprojekt: Container in Cannstatt.

Stuttgart - Eigentlich sollten  die Waggons am Nordbahnhof längst Stuttgart 21 gewichen sein. Doch es gibt sie noch immer. Nun sollen Container auf dem ehemaligen Güterbahnhofareal in Bad Cannstatt das Künstlerprojekt ergänzen – und für die Zukunft bewahren.

Ein groß gewachsener Mann steht am Rande eines schmalen Wegs, der von der Nordbahnhofstraße hinauf zu den Gleisen führt. In der Hand hält er eine Müllzange – und sieht damit aus wie ein kleiner Junge, der auf dem Schulhof Tetrapaks und Bonbonpapier aufsammelt. „Ich mag es nicht, wenn Zeug herumliegt, dazu ist es zu schön hier“, sagt Aurèle B. Mechler und zieht eine Getränkedose aus dem Gebüsch. Mülleinsammelnd geht er den Weg hinauf zu den Gleisen des Nordbahnhofs. Dort stehen 16 alte Eisenbahnwaggons: Mechlers Zuhause und Arbeitsstätte.

Klar, sein Heim will man sauber halten. Mechler macht also, wenn man so will, freiwillig die Kehrwoche – auch wenn er kein Schwabe ist. Der Künstler wurde 1978 in Nyon in der Schweiz geboren, wuchs in Heidelberg auf, studierte an der Merz-Akademie in Stuttgart Visuelle Kommunikation – und lebt und arbeitet seit 2003 in den Waggons. Er ist Künstler, besonders durch seine Graffiti-Arbeiten hat er sich einen Namen gemacht. Er gibt dazu auch Workshops in Schulen. Bis vor kurzem war er der Vorsitzende der kleinen Ateliergemeinschaft Bauzug 3YG, die seit dem Jahr 1999 in den Waggons ansässig ist.

Und die eigentlich längst wieder weg sein sollte. Ende 2010 erhielten die Künstler eine Räumungsaufforderung von der Deutschen Bahn, die im Zuge des Bahnhofsprojekts Stuttgart 21 das Gelände für ihre Zwecke benötigte. „Die Bahn braucht die Fläche, um dort ein provisorisches Betonwerk und einen Logistikbahnhof zu bauen, um Bauschutt abtransportieren zu können“, sagt Aurèle B. Mechler.

„Das Gelände wird, wenn S 21 erst einmal gebaut ist, ein Filetstück sein“

Zunächst aber sollten Bäume gefällt werden. „Darum sahen wir uns im Winter nicht wirklich im Zugzwang“, sagt Mechler. Nach zähen Verhandlungen mit der Bahn und der Stadt, bei der der Grünen-Politiker Rezzo Schlauch sich für die Waggonler einsetzte, erreichten die Künstler, dass sie unter gewissen Bedingungen – sie mussten etwa einige selbst gezimmerte Holzbauten abreisen – bis Oktober 2011 an dem alten Standort bleiben durften.

Dann wurden die Waggons einige Meter weiter platziert – mit Hilfe von Baggern und Kränen, da die alten Waggons keinen Tüv mehr haben. Dort sagte man ihnen damals eine Verbleibezeit von ein paar Monaten, höchstens aber einem Jahr voraus.

Im Oktober, so Mechler, „zieht die Bahn ab“, das Gelände, auf dem die Waggons nun stehen, soll dann eine Bau AG verwalten. Droht er dann, der Rausschmiss? „Das Gelände wird, wenn S 21 erst einmal gebaut ist, ein Filetstück sein“, sagt Mechler. „Es ist dann sicher teurer Baugrund.“

Doch wieder einmal, so scheint es, werden die Weichen unverhofft anders gestellt als geplant. „Die sind schuld daran“, sagt Mechler und zeigt auf eine Eidechse. Auf dem Gelände leben neben den Künstlern auch Kolonien von Mauer- und Zauneidechsen. Und die sind von der EU geschützt. „Wenn man hier bauen will – also für S 21 oder danach –, braucht man für die Tierchen erst eine Ersatzfläche – und bis man die hat, das kann dauern“, sagt Mechler. Wie lange – das weiß mal wieder niemand.

In Bad Cannstatt soll ein Künstlerdorf aus Containern entstehen

Diese ständige Unabwägbarkeit und das ständige Hin und Her führten dazu, dass die Künstler zweigleisig fuhren und planten: Auf dem ehemaligen, momentan brachliegenden Güterbahnhofareal in Bad Cannstatt soll ein Künstlerdorf aus Containern entstehen. Auch Aurèle B. Mechler gehört dem Verein an, der dieses Projekt vorantreibt. Er hieß zunächst „Umschlagplatz“ – doch wegen der ungewollten Assoziation mit dem Umschlagplatz im Warschauer Ghetto nahm der Verein Abstand von dem Namen. Nun nennt sich der Verein, der derzeit rund 30 Mitglieder hat, Containt e. V.

Das Konzept gleicht dem der Waggons, das einst von dem Architekturstudenten Oliver Scholz erdacht wurde – und das immerhin preisgekrönt ist. Geplant ist ein kreativer Ort für Künstler, die dort arbeiten können, aber auch Raum haben, um Konzerte, Ausstellungen, Performances, Workshops, Vorträge und Lesungen zu veranstalten.

Wichtiger aber noch sei, dass dieser Raum mobil ist. „Das haben wir aus den Vorgängen rund um die Waggons gelernt“, sagt Mechler. Deshalb fiel die Wahl auf Container, die man gegebenenfalls relativ einfach abtransportieren könnte – etwa zu einer weiteren Brachfläche, die zur Zwischennutzung frei ist. Denn auch auf dem Güterareal beträgt die Mietdauer nur zwei Jahre – immerhin mit Option auf Verlängerung. „Unser Ziel ist es, so lange wie möglich dort zu bleiben“, sagt Mechler. „Am meisten würde es uns freuen, wenn wir in die neue Städteplanung vom Neckarpark integriert würden.“

Gemeinderat hat noch keine Entscheidung gefällt

Kulturbürgermeisterin Susanne Eisenmann versteht diese Zielsetzung der Künstler – und hält sie „keineswegs für chancenlos“, auch wenn der Gemeinderat freilich noch keine Entscheidung gefällt hat. „Ich bin sehr froh, dass wir für die Waggons eine wirkliche Alternative gefunden haben. Ich denke, das ehemalige Güterbahnhofareal bietet ein Umfeld, an dem sich etwas entwickeln kann – und das Containerdorf wiederum regt zum Diskurs an“, so Eisenmann.

Geplant ist ein Holzbau rund um elf Frachtcontainer, die als Büro, Lager oder auch als Imbiss dienen. Das ist das Herzstück des Künstlerdorfs. Darum herum sollen sich Künstler mit ihrem Container gruppieren. Derzeit sucht der Verein noch Menschen, die sich an dem Projekt beteiligen möchten. Finanziert wird es mit Eigenkapital, durch Spenden und Sponsoring und mit Fördergeldern der Stadt. Das Geld zusammenzubekommen sei schwierig – Geld liegt, anders als Müll, nicht auf der Straße.

Derzeit zeigt der Treffpunkt Rotebühlplatz die Ausstellung „Nordbahnhof – Sahnehäubchen trifft Güterbahnhof-Filetstückchen“. Mehr Informationen unter www.unbenannt.info. www.abmechler.de